MARGARET ATWOOD: „DIE ZEUGINNEN“


Margaret Atwoods Welterfolg „Der Report der Magd“ endete 1985 mit dem Cliffhanger, dass die Magd Desfred von einem dunklen Wagen in eine ungewisse Zukunft abgeholt wird. Nun endlich legt die kanadische Autorin mit „Die Zeuginnen“ die lang ersehnte Fortsetzung vor.
Nur zur Erinnerung: Desfred war die nur der Zeugung von Nachwuchs dienende Magd des Kommandanten Fred in der patriarchalischen Theokratie Gilead. Entstanden aus einem Teil der USA nach dem großen Bürgerkrieg und heimgesucht von Umweltkatastrophen, sind nur noch wenige Frauen gebärfähig. Das System hat dafür gesorgt, dass es nur noch Marthas als Dienstmädchen, die meist unfruchtbaren Frauen der Kommandanten und eben die Mägde als Gebärmütter auf zwei Beinen gibt.
Noch immer führt Gilead Krieg, im Innern aber herrscht düstere Ruhe, bewahrt durch drakonische Strafen und die allgegenwärtigen „Augen“. Für das absolute Funktionieren der Mägde sorgen die einzigen Frauen mit Einfluss und Macht: die „Tanten“. Und so überrascht, dass in „Die Zeuginnen“ Desfred nur am Rande vorkommt, eine der drei Ich-Erzählerinnen aber ausgerechnet Tante Lydia ist, die berüchtigste aller Erzieherinnen.
Sie trieb schon im ersten Buch ihr unheilvolles Unwesen für das System, nun jedoch sind 15 Jahre vergangen und sie begeht Heimlichkeiten. Die Stimme, die das spricht, ist die des „Hologramms von Haus Ardua“ und diese Chronik offenbart den ganzen Zynismus des bigotten Staates. Zugleich erfährt man aus diesen heimlichen Aufzeichnungen die stasihafte Raffinesse des inneren Aufbaus, aber auch wie eine ehemalige Richterin wie Lydia als Opfer zur gnadenlosen Täterin werden konnte.
Die zweite Erzählerin lebt gar nicht in Gilead, hört aber selbst erst am 16. Geburtstag davon, dass sie nicht Daisy heißt und ihre an diesem Tag durch eine Autobombe umgebrachten Eltern sie adoptiert hatten. Nach ihrer Entführung nach Kanada wurde sie im Gottesstaat als die „kleine Nicole“ zu einer Art Ikone. Und bis zuletzt von Schergen aus Gilead gesucht.
Die im Übrigen sehr wohl wussten, dass sie Desfreds zweite Tochter war. Hochverehrtes Kind des sterilen Kommandanten und in Wirklichkeit heimlich mit dessen Chauffeur gezeugt. Nur wenig älter ist die dritte Erzählerin Agnes, erste Tochter Desfreds aus der Zeit, als diese noch June hieß und ein normales Leben führte. Sie erlebt mit offenen Augen und tiefen Zweifeln die Bigotterie ihres vermeintlichen Vaters, als dessen neue Magd achtlos dem Tod überlassen wird, nachdem sie von seinem Sohn entbunden war.
Im Widerstand gegen die Zwangsheirat mit einem der alten Kommandanten, die nach der ersten Menstruation unumgänglich wäre, entzieht sie sich dem als Anwärterin für die Funktion einer Tante. Währenddessen kehrt ihre Halbschwester als Agentin der Widerstandsgruppe Mayday nach Gilead zurück. Irgendwann laufen die Fäden der Drei zusammen und man darf sogar rätseln, inwieweit Tante Lydia als Doppelagentin mitwirkt an Niedergang und Zerfall der Republik Gilead.
Nach dezentem Beginn steigert sich dieser Roman zu einem regelrechten Thriller, in dem die überzeugenden Charaktere in meisterhafter Dramaturgie ein schlichtweg grandioses Gesamtbild ergeben. Männer und Religion kommen dabei gar nicht gut weg, was jedoch zu keinem Zeitpunkt feministisch überzogen wirkt. Und man wird bei allem grimmigen Humor, der immer wieder durchscheint, den hohen Wiedererkennungswert so vieler Dinge nicht übersehen können. Da musste die großartige Margaret Atwood nur auf reale Unterdrückersysteme wie das der katholischen Kirche im Mittelalter, der Nazis, der Mullahs oder des IS schauen. „Der Report der Magd“ steht neben „Schöne neue Welt“ und „1984“ als einer der größten dystopischen Romane der Weltliteratur - „Die Zeuginnen“ darf getrost dazugestellt werden.

# Margaret Atwood: Die Zeuginnen (aus dem Englischen von Monika Baark), 567 Seiten; Berlin Verlag, Berlin/München;

€ 25

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 1421 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de