ELIF SHAFAK: UNERHÖRTE
STIMMEN
Es beginnt mit den 10 Minuten 38 Sekunden, die Tequila Leila gemäß neurologischen
Erkenntnissen noch bleiben, um ihr Leben zu rekapitulieren. Mit Verwunderung hat sie
erkannt, dass sie soeben ermordet und in einem Müllcontainer abgeladen worden ist.
Mit diesem Auftakt setzt Elif Shafaks neuer Roman Unerhörte Stimmen ein, mit
dem die gebürtige Türkin einmal mehr in ihre einstige Heimat zurückführt. Wo Leila nun
die stationen ihres Lebens im Verbleib des verrinnenden Bewusstseins durcheilt. S begann
schon bei ihrer Geburt Anfang 1947 mit einer Lüge, denn der strenggläubige Vater
ernannte seine zweite Frau zu ihrer Mutter und degradierte die leibliche Mutter nach
etlichen Fehlgeburten zu ihrer Tante.
Es sind unerfreuliche Ereignisse von Unterdrückung und Missbrauch, die Leila schließlich
aus dem provinziellen Van fliehen lassen. Und das just an dem Tag, als ihr jüngerer
mongoloider Bruder stirbt. Doch das verheißungsvolle Istanbul wird keine Stadt der
Chancen, sondern der Narben für die junge, unbedarfte Frau. Stattdessen landet sie
im Bordell und hat dabei sogar noch das Glück, es mit Rabenmutter, einer
Puffchefin mit geduldiger Rachsucht, relativ gut getroffen zu haben.
Dennoch ist sie eie Gestrandete, doch es gibt eine Quelle der Wärme für die nie
verzagende Kämpferin mit dem großen Herzen: mehr Freundschaften, als ein einzelner
Mensch überhapt braucht. Wie Leila sind auch sie Außenseieter der Gesellschaft wie ein
Transsexueller, ein Kleinwüchsiger oder ein Untergetauchter.
Da sind dann Künstlernamen wie Nostalgie Nalan über 20 Jahre lang
Leilas engste Vertraute durch dick und dünn und Sabotage Sinan, Hollywood Humeyra,
Jamila und Zaynab 122 quasi die Aushängeschilder für das Randständige. Und es gibt mit
D/Ali auch eine große Liebe im Leben dieser Leila, die mit 43 Jahren ermordet wird. Ihre
letzte Gedanken aber gelten der nicht sehr realistischen Hoffnung auf ein schönes
Begräbnis.
Doch kaum hat sich ihr Bewusstsein verflüchtigt, nimmt das nächste Unglück seinen Lauf:
ihr Leichnam wird gefunden und für die Behörden steht fest, wo der hingehört, nämlich
auf den wirklich existierenden - Friedhof der Geächtete. So wird Leila
inmitten von Verbrechern und Selbstmördern verscharrt. Was ihre fünf Freunde aber
einfach nicht hinzunehmen bereit sind.
Es kommt zu grotesken Dialogen und Szenen, als diese ebenso schrögen wie liebenswerten
Typen sich zum Leichenklau anschicken und für ein Finale von surrealer Poesie sorgen. Das
Alles ist nicht nur fantasievoll, sinnlich und mitreißend erzählt, es glänzt auch mit
spannenden Details und Zügen eines bärbeißigen Humors.
Und natürlich schimmert auch bei diesem Roman der Erfolgsautorin viel realer politischer
Geist durch, auch wenn der historische Hintergrund hier auf Leilas Lebenszeit von 1947 bis
1990 mit seinen vielen Brüchen begrenzt ist. Fazit: ein literarischer Leckerbissen von
besonderer Art.
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