RICHARD J. EVANS: „DAS EUROPÄISCHE JAHRHUNDERT“


Es gibt zahlreiche hervorragende Darstellungen von den historischen Epochen, mal von der Restauration, mal von den revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts oder seinen Kriegen. Was fehlte, war jedoch eine Gesamtdarstellung jener Ära vom Wiener Kongress mit der Neuordnung Europas bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der für eine totale Veränderung der erwachsenen Verhältnisse sorgte.
Genau dieser Aufgabe hat sich Richard J. Evans gewidmet, emeritierter Professor für Neuere Geschichte der Cambridge University mit seinem großen Werk „Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815 – 1914“ gewidmet. Der Historiker beginnt das erste von acht großen Kapiteln mit dem Erbe der Revolution, mit dem die vor allem von Napoleon geprägte Zeit bis zu dessen endgültigem Abtreten mit ihren Nachwirkungen geschildert wird.
Gab es bis ins 18. Jahrhundert hinein ein relativ ebenbürtiges Nebeneinander großer Reiche und Kulturen wie dem Chinesischen Kaiserreich und dem Osmansichen Reich, begann spätestens mit dem Jahrhundertwechsel ein unvergleichlicher Aufschwung Europas bis hin zur globalen Dominanz weltumspannender Imperien wie insbesondere des britischen. Diese Hegemonie sieht Evans deshalb als einen Abschnitt der Weltgeschichte unter europäischer Hegemonie und diese Entscheidung des Wissenschaftlers ist ganz und gar zielführend.
Die absolute Dominanz Europas in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht manifestierte sich bis ins beginnende 20. Jahrhundert zu einer historischen Größe, wie es sie vorher und auch nachher nicht gegeben hat. Technischer Fortschritt bis hin zur industriellen Revolution, Wirtschaftswachstum, neue Kommunikationswege, Revolution der Verkehrsarten, aber auch gesellschaftliche und politische Umschwünge erfolgten in einer Form und einem Ausmaß, wie dies zu Beginn des umgrenzten Zeitraums noch unvorstellbar war.
Evans beschreibt diese ungeheuren Transformationen mit ihren grundstürzenden Veränderungen, die teils innerhalb eines Jahrzehnts alles Gewesene hinwegfegten, dankenswerterweise nicht in Nationalgeschichten oder Einzelaspekten sondern Gesamtdarstellungen, woi alles mit allem zusammenhängt oder sich gegenseitig bedingt. Und eben das ermöglicht auch den Überblick über die prägenden Entwicklungen wie Kolonialismus, Imperialismus, Demokratiebewegungen und Nationalismus.
Der Historiker ergeht sich dabei nicht in Thesen und Bewertungen, sondern rekonstruiert systematisch und faktenreich das Gesamtbild eines ungeheuer bewegten Jahrhunderts. An dessen Abschluss das Kapitel über die Auswirkungen des Imperialismus als logische Aufblähung steht, die geradezu zwangsläufig zum Ersten Weltkrieg führen musste.
Fazit: kompakter und zugleich hinreichend umfassend als Gesamtdarstellung ist ein Sachbuch zu diesem Thema kaum denkbar. Einschließlich der typisch angelsächsische unterhaltsamen Erzählkunst ist dieses Opus magnum nicht weniger als ein grandios gelungenes Standardwerk der Geschichtsschreibung.

# Richard J. Evans: Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815 – 1914 (aus dem Englischen von Richard Barth); 1023 Seiten, div. Abb.; Deutsche Verlagsanstalt, München; € 48

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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