HAUKE FRIEDRICHS: „FUNKENFLUG“


Was am Freitag, dem 1. September 1939, geschah, als Nazi-Deutschland Polen überfiel und damit den Zweiten Weltkrieg auslöste, ist bis ins Detail überliefert und dokumentiert. Wie aber waren die letzten Wochen des Friedens vor und hinter den Kulissen?
Dieser Frage widmet sich zum 80. Jahrestag des Kriegsausbruchs der Journalist Hauke Friedrichs mit seinem neuen Buch „Funkenflug. August 1939: Der Sommer, bevor der Krieg begann“. Tag für Tag umreißt er die jeweiligen Ereignisse mit vielen Details und doch so kompakt, dass die Chronik spannend zu lesen bleibt. Verschieden wie die Perspektiven sind auch die Quellen von Protokollen, Zeitungsberichten, Briefen und Tagebüchern.
Friedrichs schickt einige wichtige Kenntnisse voraus, so die über frühere Versuche Hitlers, Polen für einen Überfall auf die Sowjetunion zu gewinnen. Lohn sollte die Ukraine als Kriegsbeute sein. Als die polnische Regierung dieses Ansinnen ablehnte, schwenkte der Führer um und befahl den Militärs bereits am 3. April, den Krieg mit Polen konkret vorzubereiten.
In der deutschen Bevölkerung wie überall in Europa ahnten die wenigstens etwas von der heraufziehenden Katastrophe in diesem flirrenden wunderbaren August 1939. Wobei Thomas und Katja Mann zu den Ausnahmen gehörten – sogar wettermäßig, denn sie weilten in den Niederlanden, wo es ausnahmesweise nasskalt war. Viel mehr aber drückten die Exilanten die wachsende Kriegsgefahr, die ihnen durch genügend Indizien bewusst war.
Schließlich war der ständig heftiger werdende Streit zwischen dem Deutschen Reich und Polen um die Freie Stadt Danzig mit ihrer deutschen Bevölkerungsmehrheit in sämtlichen europäischen Medien. Der 22-jährige John F. Kennedy hatte die Stadt soeben besucht, um sich ein Bild vor Ort zu machen für seine Abschlussarbeit an der Harvard University.
Hitler aber vergnügte sich Anfang August in Bayreuth bei den Festspielen. Und es ist aus geselliger Runde sein Ausspruch gegenüber dem Star der Wagner-Sängerinnen überliefert: „Verlassen Sie sich darauf, Frau Fuchs, es gibt keinen Krieg.“ Eine mindestens so große Gefahr befürchtete dagegen Albert Einstein, der in diesen Sommermonaten vor Long Island segelte. Deshalb unterzeichnete er am 2. August das Schreiben namhafter Physiker, die US-Präsident Roosevelt davor warnten, dass Deutschland womöglich eine Atombombe entwickle.
Weitere namhafte Persönlichkeiten, die sich mit der bedrohlichen Situation befassten, sind hier auch Abwehrchef Wilhelm Canaris, die englische Hitler-Verehrerin Unity Mitford, die Widerstandskämpfer Georg Eiser und Sophie Scholl. Und diejenigen, die mehr oder weniger konkret die Strippen zogen, wie der britische Botschafter Henderson und der schwedische Industrielle Birger Dahlerus, die bis zuletzt versuchten, den Frieden zu retten.
Ihnen stehen die anderen Kräfte entgegen wie SS-General Reinhard Heydrich, der unter strengster Geheimhaltung bereits jene Aktion am Sender Gleiwitz ausarbeitet, die den Kriegsvorwand liefern soll. Während vieler immer hektischer werdender Friedensbemühungen stößt Außenminister Ribbentrop Graf Ciano, Kollege aus dem verbündeten Italien, mit der rüden einseitigen Forderung vor den Kopf: „Wir wollen Krieg!“
Am selben 11. August monologisiert Hitler gegenüber dem Schweizer Hohen Kommissar des Völkerbundes in Danzig Carl Burckhardt, beim geringsten weiteren Zwischenfall durch die Polen werde er das Land vernichten. Und es ist der 16. August, als Kapitän Gustav Kleikamp den Befehl bekommt, am 25. August mit dem Linienschiff „Schleswig-Holstein“ Danzig einen offiziellen Freundschaftsbesuch abzustatten.
Derweil inspiziert der britische Abgeordnete Winston Churchill die französischen Befestigungsanlagen an der Grenze und in Moskau laufen geheime Verhandlungen zum sensationellen Hitler-Stalin-Pakt. Auf den hin Polen mobil macht. Und während schon deutsche U-Boote auslaufen, alle Telefonverbindungen nach London und Paris gekappt sind und Hitler den Angroiff für den Vormittag des 26. August befiehlt, scheint die Geschichte den Atem anzuhalten – doch kein Krieg?!
Hitler stoppt wutentbrannt alles, denn Briten und Franzosen erklären ihren konkreten Beistandswillen für Polen und der Verbündete Italien verweigert die Teilnahme am Krieg! Noch hitziger und hektischer wird es hinter den Kulissen, doch es ist nur eine geringfügige Verzögerung des von Hitler herbeigesehnten Krieg: am letzten Tag dieses August 1939 erteilt der der Wehrmacht die „Weisung Nr. 1 für die Kriegsführung“.
Als am 1. September um 4.45 Uhr – nicht um 5.45 Uhr, wie Hitler in seiner euphorischen Radioansprache am Vormittag des Tages herausbrüllte – die schweren Geschütze der „Schleswig-Holstein“ auf die Westerplatte den Zweiten Weltkrieg eröffneten, hat es bereits die ersten Zivilopfer gegeben durch einen Bombenangriff auf die zentralpolnische Stadt Wielun.
Jeder heutige Leser weiß, worauf die Vorgänge des August 1939 hinausliefen, dennoch liest sich diese hervorragend zusammengestellte Chronik wie ein immens spannender Roman und man ist fast geneigt, den Kämpfern um den Frieden die Daumen zu drücken, damit sie obsiegen mögen.

# Hauke Friederichs: Funkenflug. August 1939: Der Sommer, bevor der Krieg begann; 376 Seiten, div. SW-Abb.; Aufbau Verlag, Berlin; € 24

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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