RICHARD FLANAGAN: „DER ERZÄHLER“


Vor fast 30 Jahren ließ sich der angehende Schriftsteller Richard Flanagan auf einen Job als Ghostwriter des Großbetrügers John Friedrich ein. Der hatte eine ganz großes Rad gedreht und australischen Banken Millionenkredite für obskure Firmengründungen abgeschwatzt. Flanagan bekam eine enge Frist für die Autobiografie, Friedrich aber mauerte mit Auskünften. Und erschoss sich nach drei Wochen.
Der junge Autor vollendete das Buch trotzdem mit viel fantasie und diese getürkte Biografie war quasi sein erster Roman. Längst gehört der Man-Booker-Preisträger zu den größten Literaten seines Landes, doch die Pseudo-Geschichte, die ihn durchaus auch innerlich prägte, ließ ihn nie ganz los.
Und nun hat er daraus den fulminanten Roman „Der Erzähler“ entwickelt, in den heutigen Zeiten der Fake-News, der selbstgestalteten Identitäten und massiven Manipulationen durch Scheinwelten so aktueller denn je.
Siegfried Heidl heißt hier der große Manipulator, der nach aberwitzigen Hochstapeleien nun vor Gericht steht, weil er Kredite über rund 700 Millionen Dollar erschwindelt hatte.
Eine Autobiografie mit ihm zu verfassen, wäre ein garantierter Bestseller für jeden Verlag. Doch Heidl hat schon mehrere Ghostwriter im Vorfeld verschlissen und die Zeit drängt, denn das Buch muss unbedingt gleich nach der Urteilsverkündung auf den Markt geworfen werden. Das sind nur rund zwei Monate und das, wobei Heidl immer wieder abblockt und die Geheimnisse seines Erfolges lieber für sich behält.
Mit Kif Kehlmann findet der Verlag dann einen, den die blanke Not trotz aller auch moralischen Bedenken Ja sagen lässt. Seine Frau erwartet Zwillinge, das Haus steht vor der Zwangsversteigerung und die Erfolgsaussichten seines eigenen unfertigen Romans sind allenfalls vage. Das üppige Honorar überwindet schließlich die großen Bedenken.
Die überaus berechtigt waren, wie Kif schnell feststellen muss, denn Heidl schwafelt einerseits über mysteriöse Beziehungen bis hin zu Geheimdiensten, andererseits sabotiert er Kifs Arbeit systematisch. Dabei empfindet der immer mehr Furcht vor den zynischen Machenschaften dieses Mephisto und erkennt, dass dessen Talent als Betrüger nicht zuletzt darin bestand, dass er nur selten log.
Doch ob Lüge oder Wahrheit: ohne Details keine Autobiografie und ohne die kein Honorar. Und die Zeit rennt. In seiner Not schließt Kif immer mehr Lücken zwischen den Bruchstücken der Heidl'schen Vita mit Erfindungen bis hin zu überaus Anekdoten. Für Heidl aber sind diese getürkten Erinnerungen ein so gefundenes Fressen, dass er sie wiederum gierig aufnimmt und in Interviews farbig ausschmückt.
Kif unterliegt derweil immer mehr der zynischen Magie und kann der Faszination des Bösen längst nichts mehr entgegensetzen. Da passt es geradezu ins Bild, dass sich der charakterlose Heidl schließlich per Freitod aus seinem unausweichlichen Schlamassel zieht und Ghostwriter Kehlmann zwar Würde und Prinzipien endgültig verliert, aber dennoch einen fulminanten Aufstieg hinlegt.
Fazit: ein zeitkritischer Roman mit gewohnt hervorragenden Charakterzeichnungen und großer Sogwirkung.

# Richard Flanagan: Der Erzähler (aus dem Englischen von Eva Bonné); 447 Seiten; Piper Verlag, München; € 24


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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