BRIGITTE GLASER:
RHEINBLICK
Mit ihrem Roman Bühlerhöhe schuf Brigitte Glaser einen regelrechten
Politthriller um wahre Vorgänge bei Bundeskanzler Konrad Adenauers heiklen
Geheimverhandlungen in der 50er Jahren. In ihrem neuen Roman sollte man jedoch weder
Geheimdienstmachenschaften noch Thriller-Atmosphäre erwarten.
Spannend geht es gleichwohl zu, auch wenn die Grundlagen des zentralen Geschehens
gänzlich real und bekannt sind: Willy Brandts Wahltriumph vom 19. November 1972 in der
sogenannten Willy-Wahl, als die SPD mit 45,8 Prozent sogar stärkste Partei im
Bundestag wurde. Ebenso gut weiß man aber auch, dass dem populären Sieger im direkten
Anschluss an den großen Tag die Macht zu entgleiten begann.
Das lag allerdings nicht an Brandts Unfähigkeit sondern an einer Mischung aus
schicksalhafter Fügung und Ränkespielen unter den Sozialdemokraten. Ausgerechnet dem
charismatischen Redner Brandt versagte nach dem fulminanten Wahlkampf noch in der
Wahlnacht die Stimme. Er musste sich nicht nur in der Universitätsklinik eine Geschwulst
im Hals entfernen lassen, für 14 Tage war ihm sogar jedes Sprechen verboten.
Was in diesen entscheidenden zwei Wochen politisch geschah, siedelt Brigitte Glaser im
Rheinblick an. So lautet der Titel des neuen Romans nach der Gaststätte von
Hilde Kessel, nur fünf Gehminuten vom Langen Eugen, dem Abgeordnetenhaus entfernt
gelegen. Hier verkehrte fast alles, was im Bonner Politbetrieb etwas zu sagen hat oder
gern hätte. Hinzu kommen so manche Ministerialsekretärinnen wie auch Taxifahrer.
Eine ansatzweise vergleichbare Gaststätte mit einer Art Kultwirtin hat es übrigens
wirklich gegeben. Und wie dort schwirren auch hier die Gespräche, Anbandelungen und
Informationsaustäusche und Hilde, Witwe in den besten Jahren, erfährt alles brühwarm.
Allerdings ist Verschwiegenheit ihr wertvollstes Geschäftsprinzip. Auch wenn sie so
einige Favoriten hat wie den umtriebigen SPD-Abgeordneten Tibulski und die verflossene
heimliche Affäre Bömitz.
Die andere wichtige Frauenfigur ist Sonja Engel, die als Krankenschwester in der
Uni-Klinik arbeitete und wie ihr Chef darauf wartet, dass ihre Spezialausbildung zur
Logopädin endlich die nötige Anerkennung findet. Und da könnte der erkrankte
Bundeskanzler die große Chance sein, denn Sonja wird ihm zur Unterstützung seines
Heilungsprozesses beigeordnet, um ihm wieder das Sprechen beizubringen.
Im Übrigen lebt Sonja in einer bunt gemischten WG, in der vor allem der schluffige Max
heraussticht. Ein liebenswürdiger Chaot aus gutem Hause, aber ständig in prekären
Geldnöten. Auch die anderen Mitbewohner bringen viel Farbe ins Geschehen bis hin zum
ordnungsliebenden K-Grüppler und später die herzerfrischende Lotti. Sie kommt als links
denkende junge Journalistin aus dem erzkonservativen Wahlkreis des neuen MdB Dr. Wolfgang
Schäuble und beginnt kecke Reportagen.
Die beiden aufrechten Frauen Hilde und Sonja geraten im Intrigenspiel der Politik bald
selbst an die Grenzen ihrer moralischen Integrität, denn die Durchstechereien von
Finanzminister Helmut Schmidt und des Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner schlagen weite
Wellen im Kampf um die Macht und Posten in der neuen Regierung. Sonja erlebt in der Klinik
aus nächster Nähe das verzweifelte Ringen Brandts um seinen genialen Adlatus Horst
Ehmke, den die anderen aus dem Bundeskanzleramt verdrängen wollen.
Quasi nebenher und doch mit zunehmender Intensität zieht sich die seltsame Geschichte um
eine ermordete junge Frau durch das Geschehen. Wer ist das anonyme Opfer überhaupt und
spielt der Fall womöglich gar in Politkreise hinein?! Wie alles mit allem und jeder mit
jedem in der kleinen Hauptstadt der Bundesrepublik zu tun hat, das ist hier spannend
zusammengefügt.
Keine dezidierte Dokumentation könnte diese so folgenreiche Weichenstellung nach dem
Wahlsieg vom November 1972 plastischer und authentischer ausdrücken: die politische und
gesellschaftliche Situation samt der Aufbruchstimmung zu Mehr Demokratie
wagen!, dem Kampf um die Rechte der Frauen und gegen die Reaktionäre in Justiz und
Bildung. Die Autorin hat durch intensive Recherchen für ein exzellentes Zeit- und
Lokalkolorit gesorgt, das vor allem etwas ältere Leser vollends in jene Zeit
zurückversetzen wird.
Und darin liegt die große Stärke dieses Romans mit seinen hervorragend gezeichneten
echten und fiktiven Figuren, auch wenn ihm die prickelnde Hochspannung von
Bühlerhöhe fehlt.
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