TOM SEGEV: „DAVID BEN GURION“


Am 14. Mai 1948 erklärte David Ben Gurion (1886-1973) die Unabhängigkeit Israels und pünktlich zur 70. Wiederkehr dieses größten Tages nicht nur für den Staatsgründer liegt die große Biografie zu seinem Leben unter dem Titel „David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis“ von Tom Segev vor.
Es gibt etliche Biografien zu dem bis heute hochverehrten Politiker, der zu den ganz großén Persönlichkeiten der jüngeren Weltgeschichte zählt. Dennoch kommt dieser eine besondere Stellung zu, denn der Historiker und Journalist Segev ist nicht nur einer der profiliertesten – und dabei kritischen – Kenner der israelischen Geschichte.
Für seine sechsjährigen Recherchen konnte er auf eine Fülle von persönlichen Dokumenten und manche staatliche Quellen zugreifen, die bis dahin nicht zugänglich waren. Dies gibt insbesondere manchen Hintergründen wie auch Ben Gurions persönlichen Beweggründen und Verhaltensweisen eine bisher ungekannte Tiefenschärfe. Segev, der den Staatsgründer noch persönlich kennengelernt hat, schreibt mit diesem Buch zugleich aber auch eine ebenso detaillierte wie fesselnde Chronik Israels entlang der Vita Ben Gurions, die den Weg vom frühen Zionismus über die Staatsgründung bis über dessen Tod hinaus begleitet.
Der Autor zeichnet ein vielschichtiges Bild dieses in einem polnischen Städtchen im russischen Zarenreich geborenen David Grün, der sich seit seiner Einwanderung nach Palästina Ben Gurion nannte. Seine frühe Begeisterung für den Zionismus, die Gründung der jüdischen Gewerkschaft Histradut, deren charismatischer Anführer er über Jahrzehnte war, aber auch die lebenslangen Ängste des im Grund verschlossenen Mannes mit den manisch-depressiven Phasen.
Die Urangst, die er schon seit dem Grauen des Pogroms von 1903 in Kischinew verinnerlichte, wurde durch den Holocaust um das Gefühl einer ständig drohenden Vernichtungsgefahr verdoppelt. So war es aus seinem Munde geradezu ein Euphemismus, als er bei der Staatsgründung sagte: „Der Staat Israel wird kein Picknick werden.“ Und auch geprägt von Palästinenseraufständen in der britischen Protektoratszeit von 1919 bis 1948 war seine Grundüberzeugung, dass Israels Existenz davon abhänge, dass die Araber meinten, es nicht zerstören zu können.
Der hindernisreiche Weg von der Balfour-Deklaration von 1917 bis zur Staatsgründung wird exzellent beschrieben und ebenso, dass es den Staat Israel ohne diesen unermüdlichen und trotz immer wieder quälender Selbstzweifel unbeugsamen Anführer wohl kaum gegeben hätte. Segev spart dabei Fehler ebenso wenig aus wie persönliche Fehltritte, die den Privatmann Ben Gurion als Lichtgestalt durchaus ankratzen.
Gleich mehrere Affären werden geschildert und eine davon lief offenbar über viele Jahrzehnte hinweg neben seiner Rolle als Familienvater. Zur starken Führerpersönlichkeit gehörte aber auch die Neigung zu eigenmächtigem Durchgreifen wie bei der offiziellen Fassung der Unabhängigkeitserklärung. Über Nacht änderte Ben Gurion den Eingangssatz, so dass er nun wie folgt lautete: „Im Land Israel entstand das israelische Volk; hier prägte sich ein geistiges, religiöses und politisches Wesen.“ Dazu passte die früh von ihm postulierte These, dass der Platz aller Juden im Land Israel sei und sie als Zionisten die Pflicht hätten, sich dort niederzulassen.
Das Ben Gurions Haltung und Mitwirken zum Aufbau einer eigenen Atommacht durch das Dimona-Projekt hier nur gestreift wird, beruht auf naheliegenden Gründen der Geheimhaltung. Allerdings war seine Haltung dazu unmissverständlich: „Wir brauchen Abschreckung und keinen Sieg im Krieg.“ Als teils diffus, teils gar heikel wirkt heute Ben Gurions Haltung gegenüber jüdischen Einwanderern aus rückständigen arabischen Ländern. Ihnen traute er nicht zu, einen modernen Staat nach europäischem Muster aufzubauen, wie er ihm vorschwebte.
Als langjähriger Ministerpräsident seines Landes betrieb der Zionist und Sozialist insgesamt eine eher moderate Politik und fand bei seinem höchst intensiven Arbeitseinsatz dennoch Zeit für unendlich viele Niederschriften. Wobei Segev sogar erstaunliche Beispiele von romantischen und sentimentalen Anwandlungen offenlegt. Andererseits war dieser jüdische Staatsmann erklärt säkular eingestellt: „Der Gott, an den ich nicht glaube, ist ein jüdischer.“
Tom Segev hat in dieser umfassenden und sehr tiefschürfenden Biografie ein gestochen scharfes Porträt einer außergewöhnlichen Persönlichkeit gezeichnet, die die Weltgeschichte mit Auswirkungen bis auf den heutigen Tag maßgeblich beeinflusst hat. Der Wert des Buches liegt gerade auch in der Tatsache, dass der Historiekr sie mit kritischem Blick und nicht als Hommage verfasst hat. Und am Ende versteht man David Ben Gurions Lebensmotto noch besser: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“

# Tom Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis (aus dem Hebräischen von Ruth Achlama); 800 Seiten, div. Abb.; Siedler Verlag, München; € 35

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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