NÉGAR DJAVADI: „DESORIENTALE“


Kimia sitzt im Wartesaal einer Klinik zur Erfüllung von Kinderwünschen. Obwohl sie schon lange im Pariser Exil lebt, gilt auch für diese gebürtige Iranerin der Grundzweck jeden Frauenlebens: die Mutterschaft. Obwohl sie in ihren Reflektionen bald schon kein Hehl daraus macht, dass sie lesbisch ist.
Damit beginnt Négar Djavadi ihren in Frankreich bereits gefeierten Roman „Desorientale“. Ein sehr autobiografisch geprägtes Werk, denn diese Ich-Erzählerin Kimia Sadr ist ganz offen eingestanden ein Alter Ego der 1969 im Iran geborenen Autorin. In zwei großen Erzählströmen verweben sich die über vier Generationen gestreckten Familiengeschichten und ihre eigene, die vor allem auch eine Identitätssuche ist.
Wenn Kimias später Kinderwunsch auch etwas staunen lässt, da man ja auch von der modernen und ziemlich französischen Lebensführung hört, so erfährt man doch, dass ihre Familie weder sonderlich religiös noch etwa konservativ ist. Vielmehr war gerade die oppositionelle Haltung des intellektuellen Vaters erst gegenüber dem Schah-Regime und noch mehr gegen die 1979 ausbrechende Islamische Revolution und die rigide Ayatollah-Regierung der Grund für die Flucht ins Exil.
Kimia erzählt ausführlich nicht nur ihre eigene Vita, denn wie für Iraner selbstverständlich spielt die Familie eine allgegenwärtige Rolle. Das geht bis zum Umgang mit den Schwestern und die Bedeutung einer ganze Reihe von Onkels. Es sind spannende Erinnerungen an die iranische Vergangenheit, verbunden mit der bewegten Geschichte der uralten Kulturnation in der Neuzeit. Eigenheiten werden da hochgehalten und weitervererbt, stoßen sich teils jedoch mit dem westeuropäischen Lebensalltag.
Wie ein roter Faden zieht sich „das Ereignis“ durch den gesamten Roman – offenbar etwas Schlimmes, das am 11. März 1994 geschah – das aber immer wieder von der Erzählerin nach hinten verschoben wird. Um so größeren Raum nehmen schließlich die Partnerschaften ein und hier hat Kimia als Lesbe ihre zweite Seite der Andersartigkeit, nachdem sie ja schon mit zehn Jahren als Exotin in die neue Heimat kam.
Mit dem ihr eigenen trockenen Humor beschreibt sie die Rolle der Homosexualität im Iran – derartiges wird schlichtweg als dort nicht existierend verleugnet. Wozu sie sogar eine entsprechende lächerliche aber authentische Aussage des früheren Präsidenten Ahmadineshad zitiert. Ihr eigenes So-Sein gilt dabei als noch bizarrer: es existiert nicht einmal ein eigenes Wort für „lesbisch“ in der Landessprache.
Auch deshalb durchziehen vielerlei Lebenslügen Kimias Leben und das anderer Familienmitglieder. Und all das darf als real angenommen werden, wobei Vergangenheit und Gegenwart immer wieder souverän miteinander verflochten werden. Wer sich als Leser zudem nicht von der zuweilen überbordenden Ich-Bezogenheit der Erzählerin nerven lässt, erhält mit diesem Reigen des Fabulierens ganz nah an der Wirklichkeit außerdem hochinteressante Einblicke sowohl in typisch iranisches Familienleben wie auch in die historischen Vorgänge im Iran.

# Négar Djavadi: Desorientale (aus dem Französischen von Michaela Meßner); 400 seiten; C. H. Beck Verlag, München; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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