MARINA ABRAMOVIC: „DURCH MAUERN GEHEN“


Ein starker Charakter, eine frühe Neigung zur Exaltiertheit und dazu eine solche privilegierte und zugleich unglückliche Kindheit im grauen kommunistischen Jugoslawien unter Tito – das war der Nährboden, um aus Marina Abramovic die Ikone der Performance-Kunst werden zu lassen.
Zu ihrem 70. Geburtstag am 30. November 2016 hat sie jetzt mit Ghostwriter James Kaplan unter dem beziehungsreichen Titel „Durch Mauern gehen“ ihre Autobiographie veröffentlicht. (Die allerdings eher die Bezeichnung Memoiren verdient.) Wie wichtig ihre Kindheit und Jugend für die spätere Entwicklung war, ist schon an der Ausführlichkeit zu erkennen, mit der sie auf diese Zeit mit vielen Einzelheiten eingeht.
Geboren als Tochter serbischer Partisanen mit Heldenstatus aus dem Weltkrieg und mit hoher Stellung im jungen Staat, wuchs sie in einer riesigen Wohnung mitten in Belgrad auf. Ob Klavierstunden, Fremdsprachenunterricht oder alles Kulturelle, all das wurde unterstützt wie bei Bildungsbürgern. Ein schönes Kleid aber gab es ebenso wenig wie Zuneigung. Stattdessen regierte die herrschsüchtige Mutter mit Härte und Ohrfeigen.
Als das Mädchen mit sechs Jahren für fast ein Jahr wegen einer vermeintlichen Blutkrankheit ins Krankenhaus muss, erinnert sie sich später daran als die einzige erfreuliche Zeit als Kind. Ansonsten aber steht da der gallige Satz: „Bei uns herrschte nie Freude.“ Drangsalierung und Kontrollwut der Mutter reichten bis ins Erwachsenenleben, als sich die junge Frau in einer frühe Ehe geflüchtet hatte.
Erst mit einem drastischen Akt konnte sie die Unerschütterliche vertreiben: mit Unmengen brauner Schuhcreme beschmierte sie Wände und Fenster ihres Apartments, als seien es Exkremente. Von da an ließ sich die Mutter nie wieder sehen. Marina Abramovic hatte zu der Zeit bereits – so etwas Kulturelles war bei den Eltern genehm – Malerei studiert aber kein wirkliches Interesse mehr daran. Der entscheidende Schritt hin zu dem, was sie zu einem Superstar der zeitgenössischen Kunst machen sollte, war dann 1975 die Begegnung mit dem deutschen Künstler Frank Uwe Laysiepen.
Bekannt unter dem Namen „Ulay“, war ihr Zusammenkommen wie ein Erdbeben und führte zu einem zwölfjährigen Nomadenleben der besonderen Art in einem alten Polizeibus als Behausung. Von ihrer Kindheit her war ihr klar: „Kunst muss verstörend sein.“ Und genau das demonstrierten diese Beiden in spektakulären Performance-Kunstaktionen unter oft hohem Körpereinsatz. Wie jene Aktion, als sie in einem Museum immer wieder nackt so aufeinander zuliefen, dass ihre Körper laufstark gegeneinanderklatschten.
Nach unzähligen Auftritten und einem bewegenden Jahr bei den australischen Aborigines wurde auch ihre Trennung ein großer Akt: in 90 Tagen liefen sie, jeder aus der anderen Richtung, die 2500 Kilometer der Chinesischen Mauer aufeinander zu. Beim Aufeinandertreffen erfolgte jedoch nicht die eigentlich geplante Heirat sondern die Verabschiedung.
Die wahre Berühmtheit der Künstlerin aber entwickelte sich aus ihrem Hang und ihrer Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten, auch die physischen und psychischen des eigenen Körpers. Da führte sie eine Messer-Performance vor, bei der sie mit einem scharfen Messer in die Zwischenräume zwischen den Fingern der linken Hand stach, die auf Papier lag. Je schneller sie zustach, desto öfter traf sie dabei auch das eigene Fleisch und – sie nennt es die Initialzündung: „Ich hatte die totale Freiheit erfahren – ich hatte gespürt, dass mein Körper grenzenlos war.“
Es war berauschend für sie und der Beginn einer langen Reihe noch viel extremerer Aktionen, mit denen sie sich in provokanter Weise vor dem oft verstörten, zuweilen auch entsetzten Publikum kasteite. Wobei ausgerechnet ihre wohl berühmteste Performance „The Artist is present“ im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) im Jahr 2010 keinen Tropfen Blut benötigte.
Sie tat nichts weiter, als drei Monate lang an sechs Tagen der Woche für viele Stunden am Stück an einem Tisch zu sitzen und zu schweigen. Gegenüber ein Stuhl für Menschen aus dem Publikum, die in einen wortlosen Austausch mit ihr treten konnten. Über 1500 taten dies, manche nur für Minuten, einige brachen in Tränen aus. Besucherzahlen dieses Ereignisses: unglaubliche 850000.
Ob sie sich peitschte, sich öffentlich mit einer Glasscherbe ein Pentragramm in den Bauch ritzte oder nackt auf Eisblöcke legte – beim Körpereinsatz kannte sie keine Grenzen und ihre Fantasie war dabei so ungebärdig wie ihre Leidenschaft und Hingabe. Immer wieder klingt jedoch in den schnörkellosen und teils auch deftigen Sätzen durch, wie ihre Vergangenheit, wie ihre Eltern sie geprägt haben.
Zugleich ist sie bei aller Exaltiertheit und Genialität unverkennbar narzisstisch. So geht sie auch in der Offenheit ihrer Memoiren an manche Grenzen und lässt dennoch so vieles unberührt oder unerklärt, dass viele Rätsel bleiben. Doch vermutlich sollte ein Phänomen wie Marina Abramovic nicht all ihrer Geheimnisse beraubt werden. Spannend und faszinierend sind diese Memoiren auch ohne das auf jeden Fall.

# Marina Abramovic: Durch Mauern gehen (aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann); 476 Seiten, div. Abb.; Luchterhand Literaturverlag, München; € 28

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: NF 328 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de