SABINE RENNEFANZ: DIE MUTTER
MEINER MUTTER
Es gibt Familiengeheimnisse, von denen ahnt man kaum etwas und ist doch nicht völlig
überrascht, wenn sie eines Tages enthüllt werden. Wie jenes, von dem Sabine Rennefanz in
ihrem autobiografisch unterlegten Roman Die Mutter meiner Mutter schreibt.
Gewundert hatte sich die Ich-Erzählerin schon zuweilen, wie extrem verschieden ihre
Großeltern waren. Opa Friedrich tanzte gern, mochte Schnaps und Schlagermusik und wenn er
die Kleine auf den Schoß nahm, fand sie das so schön, dass sie sich auch später noch
gern daran erinnerte. Oma Anna dagegen wirkte stets verschlossen und unnahbar, obendrein
schlief sie in der Wohnstube auf dem Sofa und bevorzugte auch nach seinem Tod das
Verweilen in abgedunkelten Räumen.
Als jedoch eiens Tages die Mutter der Ich-Erzählerin mit der unheilverkündenden
Mitteilung Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden
gewissermaßen zu einer Spurensuche anregt, bringt diese quälende Überraschungen zutage.
Oma Anna war am Kriegsende mit gerade 14 Jahren als Flüchtling aus dem Osten in das
entlegene Dorf Kosakenberg gekommen. Wie so viele auch anderswo unwillkommen, konnte sie
von Glück sagen, dass sie bei einer Bauernfamilie unterkommt.
Sie arbeitet hart und träumt davon, etwas zu lernen und eines Tages in die Stadt zu
ziehen. Alles läuft noch sehr karg unter sowjetischer Herrschaft, denn die DDR ist noch
nicht gegründet. Da kehr Friedrich Stein heim, ein recht undurchsichtiger Mann, der auf
die Russen schwört, weil die ihn in der Kriegsgefangenschaft gerettet haben. Anna geht
dem bereits 40-Jährigen aus dem Weg, weil er ihr irgendwie unheimlich ist.
Um so überraschender scheint es da, dass Anna plötzlich schwanger ist und ihn heiratete.
Der ersten Tochter folgen bald zwei weitere, bis Anna in die Stadt verreist und nach der
Rückkehr nie wieder schwanger wird. Allerdings bringt es die Familie durchaus zu einem
ordentlichen Leben, in dem es den Mädchen gut geht. Nur der so gegensätzliche Lebensstil
der Eltern und ihr spröder Umgang miteinander könnte zu denken geben.
Und eröffnet bei den mühsamen Nachforschungen der Enkelin Stück für Stück ein
wahrhaft düsteres Familiengeheimnis. Friedrich Stein hatt im Oktober 1949 die Anna auf
einem Dachboden vergewaltigt und die Zeiten waren tatsächlich noch so, dass diese
Schandtat samt ihrer Folgen nur wieder bereinigt werden konnte, indem der sie
heiratete, zumal eine uneheliche Schwangerschaft im Dorf nicht geduldet worden wäre.
Womit eine lebenslange Tragödie zementiert wurde, die in ihren Folgen auch auf die
Töchter und sogar die Enkelinnen durchschlug. Mochte die Großmutter nach seinem Tod auch
ausnahmslos sämtliche Hinterlassenschaften getilgt haben, die Erkenntnis und der Schock
für die Nachfahren kam erst jetzt nach 20 Jahren. Um so mehr, als offensichtlich das
gesamte Dorf von dem Verbrechen wusste.
Ein beklemmender Roman, der auf wahren Begebenheiten beruht. Doch gerade die klare
schnörkellose Prosa, bei der die nüchterne Journalistensprache deutlich durchscheint,
sorgt für die tief unter die Haut gehende Prägnanz des ungeheuerlichen Geschehens.
Fazit: ein leichte Kost, aber ein anspruchsvoller literarischer Genuss.
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