M.
SÜKRÜ HANIOGLU: ATATÜRK
Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) war der Begründer der modernen Türkei und zweifellos
eine der prägendsten Politikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Über sein Leben
gibt es zahlreiche auch biographische Werke, dennoch gelang es M. Sükrü Hanioglu mit
seiner Biographie Atatürk Visionär einer modernen Türkei eine Vita
mit so noch nicht gekannten tiefen Einblicken in die Beweggründe seines Wirkens zu
verfassen.
Ein wesentlicher Aspekt des noch heute im ganzen Land allgegenwärtig verehrten
charismatischen Volksführers, dem Hanioglu eine impulsive Selbstverliebtheit
bescheinigt, liegt hier auf auf der intellektuellen und weltanschaulichen Prägung
Atatürks. Der Professor für Nahoststudien an der Princeton University, New Jersey,
stützte sich bei seinen äußerst intensiven Recherchen insbesondere auf osmanische
Originalquellen, auf Atatürks eigene Schriften sowie auf Memoiren von Weggefährten. Ein
interessantes Licht warfen jedoch auch die unzähligen Zeitschriften- und Zeitungsartikel
auf seine jeweiligen Handlungen und öffentlichen Äußerungen.
Die Westorientierung Mustafa Kemals den Ehrennamen Atatürk = Vater der Türkei
erhielt er erst 1934 wurde bereits in seiner Kindheit im damals noch osmanischen
Saloniki mit seiner kosmpolitischen Vielvölkerwelt angelegt und während seiner
Militärausbildung weiter gefestigt. Die Erziehung in den nichtreligiösen aber um so
nationalistischeren Militärakademien wurde dann besonders von der Bewegung der
sogenannten Jungtürken geprägt, die angesichts des Zustands des Osmanischen Reiches als
krankem Mann am Bosporus nach Modernisierung strebten.
Der rückwärtsgewandte Sultan Abdülhamid II. war das besondere Hassobjekt des
Offizierskorps, zugleich hing man dort dem sogenannten Vulgärmaterialismus nach deutschem
Vorbild an. Wesentliche Säulen waren dabei eine materialistische Ausrichtung,
Wissenschaftsglaube und Darwinismus, woraus Atatürks später seine sozialdarwinistischen
Überzeugungen bezog. Allerdings wurde er trotz seiner allumfassenden Reformen und den
vielen Reden und Schriften dazu kein Denker vom Range eines Karl Marx oder Lenin, denn
dazu war er viel zu pragmatisch auf die Durchsetzung des Wandels ausgerichtet.
Hatten französisches Schulwesen und die Lehren der Kriegsakademie in Berlin im Rahmen der
militärischen Unterstützung durch das deutsche Kaiserreich den ehrgeizigen jungen
Offizier ohnehin schon stark beeinflusst, brachte der Erste Weltkrieg die ersehnten
einmaligen Chancen für ihn. Nach den militärischen Desastern in den Balkankriegen von
1912/13 und den damit verbundenen Verlusten fast sämtlicher europäischer Besitzungen lag
das veraltete Militär schwer danieder.
So schien die nächste, noch schlimmere Niederlage nun durch die Alliierten
gegen des Osmanische Reich als Kriegspartner der Mittelmächte 1915 sicher. Doch
die monatelange Abwehrschlacht von Galipoli wurde zu einem unerwarteten Triumph und
Mustafa Kemal war als maßgeblicher Militärführer dessen großer Held. In der
hochspannenden Nachkriegszeit führte er das bedrängte Restreich dann bis zur Gründung
der Türkischen Republik als moderner Nationalstaat im Jahr 1923.
Den Weg dahin ebnete der politische Pragmatiker mit viel Durchsetzuungskraft und Chuzpe
wahlweise als Sozialist, Islamist, Nationalist, Aufklärer und Neuerer. Eine Mischung, die
sich als Kemalismus richtungsweisend in der Verfassung dieser ersten
säkularen Republik in einem muslimischen Land niederschlug. So war die Überwerfung des
Osmanischen Reiches trotz aller Bemühungen nicht das Werk der siegreichen Alliierten
sondern das des osmanischen Generals Mustafa Kemal.
Mit starker Hand und gegen teils erhebliche Widerstände setzte er auf dem Weg in die
Moderne Reformen um, die damals verwegen und oft auch unmöglich erscheinen mussten. Da
gelang ihm bereits 1924/25 die Abschaffung des jahrundertealten Kalifats und die neue
Zeitrechnung richtete sich fortan nach dem christlichen Gregorianischen
Kalender. Als autokratischer Revolutionär zwang er seinem Volk aber auch den abrupten
Wechsel zur lateinischen Schrift auf und ließ den Koran in die Nationalsprache
übersetzen.
Zivilehe, Verbot des Fez, die Einführung von Familiennamen die Westorientierung
krempelte die jetzt türkische Gesellschaft in der 15 Jahren seiner Herrschaft gründlich
um. Demokratie und Pluralismus spielten bei seinem Wirken als Lehrer und Erneuerer seines
Volkes allerdings eine untergeordnete Rolle.
Um so eindrucksvoller lässt Hanioglus Biographie aber auch erkennen, wie der jetztige
Präsident Erdogan in seinem Gestaltungswillen gewissermaßen ein neuer Atatürk werden
will, dabei jedoch mit seiner islamistischen Ausrichtung wesentliche Grundsätze der
kemalistischen westlich-laizistischen Verfassung auszuhebeln und zu beseitigen versucht.
Fazit: ein exzellentes biographisches Werk, das zum Verständnis der heutigen Türkei und
ihrer aktuellen politischen Situation unverzichtbar ist. Obendrein ist es von
beeindruckender intellektueller Klarheit und zugleich höchst unterhaltsam zu lesen.
|