SUSAN JUBY: DER TAG, AN DEM
WIR BEGANNEN, DIE WAHRHEIT ZU SAGEN
Ein außergewöhnliches Jugendbuch hat die kanadische Erfolgsautorin Susan Juby mit ihrem
jüngsten Roman Der Tag, an dem wir begannen, die Wahrheit zu sagen verfasst.
Es lebt weniger von einer ausladenden Handlung als vielmehr vom experimentellen Charakter,
der sich auch in der Form als Essay über ein heikles Experiment niederschlägt.
Alles beginnt mit schlichter Neugierde von drei Schülern der 11. Klasse an der Green
Pasture Highschool für schone Künste und Design auf Vancouver Island. Die kritische
Dusk, der witzige Neil und Ich-Erzählerin Normandy rätseln, ob ihre Kommilitonin Aimee
wohl während der Sommerferien ein paar Renovierungsarbeiten an sich hat
vornehmen lassen, denn Nase und Busen sehen deutlich attraktiver aus als zuvor.
Neil wagt es dann tatsächlich, Aimee darauf anzusprechen und die reagiert sogar
ausgesprochen positiv. Was das Trio prompt auf die Idee einer
Wahrheitskommission bringt, um weitere Geheimnisse von Personen an der
Highschool herauszukitzeln, nach denen man sich normalerweise niemals erkundigen würde.
Doch wie bei Aimee soll die diskret bleibende Befragung ja für den Befragten auch eine
Befreiung sein.
Also horchen sie ihre Probanden nach sexuellen Vorlieben, ihre Gefühle für oder gegen
Schüler, über Mobbing im Internet oder Familienprobleme aus. Manche Wahrheiten sind
unbequem, manche vermutlich erlogen, oder aber es passiert wie bei der eher schüchternen
Normandy: die 16-Jährige ist fasziniert von dem Bildhauer Tyler Jones, wagt dann aber
doch nicht zu fragen, ob er womöglich schwul ist.
Um so eifriger schreibt sie alles nieder und schildert die Erlebnisse in einem Essay,
wobei sie über eine Vielzahl von Fußnoten auch mit ihrer Lehrerin für Kreatives
Schreiben kommuniziert. Während Normandy einerseits nebenher plötzlich erkennen muss,
dass Freund Neil eigentlich längst mehr als nur ein Freund für sie ist, tut sie sich mit
ihrem eigenen, ziemlich großen Familiengeheimnis und die Wahrheit darüber ganz schön
schwer.
Da gibt es nämlich die ältere Schwester Keira, die als Absolventin derselben Highschool
mittlerweile ein Star der Graphic Novel Scene geworden ist. Was für die Familie und
besonders Normandy allerdings eher peinlich sein müsste, denn Keira verwendet nicht nur
Ereignisse aus der eigenen Familie in ihren krassen Doppeluniversums-Comics, die
Familienmitglieder spielen darin als böse verhunzte Kreaturen auch noch die Hauptrollen.
Der finanzielle Erfolg scheint beträchtlich, andererseits benimmt sich die Künstlerin
reichlich seltsam und kommt und geht frei nach Gutdünken.
Doch sie ist ja nicht die einzige Spleenige in diesem kleinen Kosmos und auch die
sonstigen Aktionen der Wahrheitsforscher haben es in sich. Das Ganze erweist sich als
komplexe Geschichte, die zuweilen auch verwirrt. Insgesamt jedoch überzeugt dieses
Experiment mit einem Experiment, das passagenweise eher wie eine Reportage daherkommt.
Fazit: ein interessanter Roman der besonderen Art und nicht nur für junge Leser ab etwa
15 Jahre auch eine intellektuelle Herausforderung.
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