LINUS REICHLIN: IN EINEM
ANDEREN LEBEN
Eltern kann man sich nicht aussuchen und so mancher muss mit den Gespenstern aus Kindheit
und Jugend ein Leben lang kämpfen. Wie Luis Maiwald, der in den 50er Jahren als
Einzelkind in potentiell gute Verhältnisse geboren wird. Der Vater ist ein junger
attraktiver Zahnarzt in einer Schweizer Kleinstadt, die Mutter ein
südländisch aussehender Quirl.
Doch diese vermeintlichen Vorzeigeeltern sind gewissermaßen ein Paar wie Liz Taylor und
Richard Burton im Kleinformat. Der Vater erweist sich als ständig trinkender Egomane, der
im Dauerstreit mit der Mutter liegt. Oft genug flüchtet sich der Junge nachts im Pyjama
in den unbequemen Luftschutzkeller des feinen Mehrfamilienhauses, denn lieber hält er
Spinnen und Regalbretter als Liegestatt aus als das Schreien, Fluchen und Türenschlagen
in der eigenen Wohnung.
Das sind allerdings noch die einfacheren Zeiten in dieser nur materiell gut gepolsterten
Kindheit. Dann aber lässt der Schweizer Erfolgsautor Linus Reichlin in seiner fiktiven
Autobiographie In einem anderen Leben die wirklich schlimmen folgen, als die
Mutter im Wortsinne abstürzt. Sie, die ohnehin kaum ein Halt für Luis war, setzt sich
immer wieder tageweise in ihre sonnige Heimat im Tessin ab und von Weißwein beschwingt,
kriegt sie eines Tages auf einer Bergstraße die Kurve nicht.
Hatte sie bisher schon die so unbarmherzig-herzlose Vater-Sohn-Beziehung wenig
abgemildert, ist sie von nun nur noch ein komatöser Pflegefall. Und Ich-Erzähler Luis
leidet auch noch unter Schuldgefühlen, weil er, statt sie von der weinseligen Fahrt
abzuhalten, lieber mit Karin turtelte, mit 16 seine erste Liebe. Doch es ist der
charakterlose Vater, der mit unfassbarer Skrupellosigkeit für immer neue seelische Wunden
und mit seinem Alkoholiker-Gebaren für den unaufhaltbaren Niedergang sorgt.
Die Mutter hat nur noch zwei Dinge, die sie ruhigstellen, die bärbeißig-herzliche
Pflegerin Frau Gruber und das Gemälde Winterliche Landschaft von Jan van Os,
das der zeitweise sehr gut verdienende Zahnarzt als Geldanlage für 200.000 Franken
gekauft hatte. Wenn sie das Bild nicht vor Augen hat, verfällt die Mutter in
Würgekrämpfe, dennoch verhökert es Vater Maiwald, als er auch beruflich versumpft.
Luis, der so gerne Musiker würde, aber kein Rhythmusgefühl hat, besinnt sich auf sein
malerisches Talent es ist hoch entwickelt, ohne dass er es schätzen würde
und kopiert das Gemälde heimlich. Es rettet die Mutter jedoch nur kurz, denn der Alte
setzt auch die Kopie bald als das angebliche Original für viel Geld um. Für den Sohn
bleibt nur noch die Flucht gleich nach Abitur, weit weg zu Karin in Genf, wo er
gleichzeitig zum Kunststudenten wird.
Die Prägungen aber kann er nicht verdrängen und mit Karin muss es schieflaufen, denn:
Es sind die Mitwisser, die einem das Vergessen schwer machen. 20 eher
unbedeutende Jahre später holt ihn die Vergangenheit dennoch ein, als er der Liebe wegen
nach Berlin gezogen ist und dort als Kunstlehrer arbeitet. In Nora hat er die kongeniale
Partnerin gefunden, denn auch sie hat sie durchlebt: Die häusliche Dunkelheit, die
über Kinder hereinbrechen kann.
Sie war elf, als ihre Mutter, eine Ärztin, Witwe wurde und haltlos in eine
zerstörerische Tablettensucht stürzte. Sie haben gemeinsame Schmerzpunkte, dennoch sind
Luis' Hypersensibilität und sein zerstörtes Urvertrauen eine schwere Hypothek. Um so
mehr, als unversehens das Jan van Os-Gemälde wieder in seinen Blickpunkt rückt und alte
Wunden aufreißt.
Das hat fatale Wirkung, denn mit ihm kommt die Galle der Vergangenheit wieder hoch und
ätzt in das neue Leben. Und weil auch Noras Gespenster nur verdrängt sind, muss man sich
fragen, ob ein wie auch immer geartetes Happyend trotz allem möglich ist. - So bleibt
dieser klar, eindringlich und tiefgründig geschriebene Roman bis zuletzt ein ungeheuer
fesselndes und unter die Haut gehendes Familienepos auf hohem Niveau.
Mag die gesamte Konstruktion auch nur raffiniert erfunden scheinen, so sind die
psychologischen Feinheiten doch sehr authentisch dargestellt und es bleibt nur ein Fazit:
ein großartiges Stück Literatur, allerdings keine leichte Kost.
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