AYELET GUNDAR-GOSHEN: LÖWEN
WECKEN
Mit ihrem Debütroman Eine Nacht, Markowitz machte die israelische Autorin
Ayelet Gundar-Goshen bereits international Furore, doch ihrem zweiten Roman Löwen
wecken kann man nur noch eine Wertung erteilen: er ist ein Meisterwerk in Inhalt und
Sprache.
Im Mittelpunkt steht der 41-jährige Neurochirurg Etan Grien. Nach hervorragendem
Karrierestart in Tel Aviv verschlug es ihn nicht ganz freiwillig an das Krankenhaus der
Wüstenstadt Beer Sheba. Der überkorrekte Arzt hatte sich nicht damit abfinden wollen,
dass sein Vorgesetzter korrupt war. Seine geliebte Ehefrau Liat hatte ihn dazu bewegt, mit
dieser Versetzung übleren Folgen eben auch für ihn auszuweichen. Ihre Belohnung für ihn
war ein roter Mercedes-Jeep.
Trotz der glücklichen Ehe samt den kleinen Söhnen und der kleinen Villa in einem Vorort
ist Etan wenig begeistert am neuen Arbeitsplatz. Was auch ein Grund ist, weshalb er nach
einer erneuten 19-Stundenschicht seinen Frust mit einem Vollmondtrip in die Wüste
austobt. Mit weit überhöhter Geschwindigkeit jagt er die Wüstenpiste entlang, bis es
plötzlich knallt. Er hat im Dunkeln einen Mann überfahren und als Fachmann erkennt er
sofort, dass das Opfer diese schwere offene Kopfverletzung nicht überleben wird.
Polizei rufen und damit automatisch die Berufslaufbahn ruinieren? Und vermutlich auch die
Familie? So begeht Etan Fahrerflucht und hat eigentlich beste Chancen, denn der Jeep hat
keinen Kratzer und bei dem Toten handelt es sich um einen illegalen Eritreer. Am anderen
Morgen jedoch, Liat bringt die Kinder in Krippe und Schule, steht eine große
dunkelhäutige Frau vor seiner Haustür. Sie bringt ihm das Portemonnaie, das er am
Unfallort unbemerkt verloren hat. Sirkit ist ihr Name und sie ist die Witwe von Assum, dem
Mann, den er totgefahren hat.
Den Preis für ihr Schweigen aber hat Etan nicht in barer Münze zu zahlen, stattdessen
erwartet sie ihn in der Nacht an einem Camp in der Wüste und dort in einer verlassenen
Werkstatt soll er ihren illegalen Landsleuten ärztliche Hilfe leisten. So Sirkits Bitte,
allerdings garniert mit der knappen Bemerkung, die sein ganzes wohlgeordnetes Leben über
den Haufen wirft: Nicht, dass du eine Wahl hättest.
Womit für Etan nicht nur ein höchst kritisches und strapaziöses Doppelleben voller
Lügen, Diebereien und vielen, vielen Überstunden beginnt. Zu allem Überfluss ist seine
liebe Liat ja auch noch eine höherrangige Polizistin mit anerkannten Qualitäten.
Ausgerechnet sie verbeißt sich in den Fall des überfahrenen Eritreers und das sogar
entgegen dem Willen ihres Chefs, dem ein toter Flüchtling ziemlich egal ist. Zugleich
driften daheim die Eheleute durch zu viel Schweigen und Heimlichtuerei so weit
auseinander, dass ihr Vertrauen zueinander Schaden nimmt. Während Etan den endlosen
Sonderschichten in seinem unfreiwilligen Wüstenkrankenhaus nicht entfliehen
und die verwirrenden Empfindungen für die rätselhaft Sirkit nur mühsam verdrängen
kann, versteigt sich Liat in mögliche Tatabläufe mit jungen Autodieben aus den Kreisen
krimineller Beduinen.
Die verwegene Achterbahnfahrt der Ereignisse entwickelt einen ungeheuren Sog und selbst
ausführliche Einschübe von Erinnerungen bremsen nur scheinbar den Vorwärtsdrang, sind
sie doch für die exzellente Ausgestaltung der Charaktere von immenser Bedeutung. Wobei
unübersehbar ist, dass die Autorin eine Psychologin von hoher Sensibilität und
Vorstellungskraft ist. Wer sind die Guten und wer die Bösen? Aber auch die Grenzen
zwischen Tätern und Opfern verschwimmen.
Immer wieder folgen ebenso überraschende wie schlüssige Wendungen und neue Nuancen
einzelner Protagonisten. Ayelet Gundar-Goshen gelingt ein grandioser Zirkelschluss für
diese vielschichtige Geschichte, die ihren Realismus insbesondere auch aus der gnadenlos
einfließenden Kritik an der gesellschaftlichen Situation der Juden, der Araber und der
Flüchtlinge im Lande bezieht.
Das Alles wäre allerdings nur halb so überzeugend ohne diese mal elegante, mal
zupackende bis derbe Sprache. Übersetzerin Ruth Achlama kommt das große Verdienst zu,
die geradezu magische Prosa dieses anspruchsvollen Romans kongenial ins Deutsche
übertragen zu haben.
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