ULLA-LENA LUNDBERG:
EIS
Im Jahr 1946 kommt der angehende Pfarrer Petter Kummel mit Ehefrau Mona und der kleinen
Tochter Sanna in seine erste Gemeinde. Die liegt auf den kargen Örar-Inseln, Teil des
autonomen finnischen Aland-Archipels etwa auf halber Strecke zwischen Finnland und
Schweden. Der idealistische junge Mann ist ähnlich begeistert von dem entbehrungsreichen
und dennoch so ausgefüllten Leben hier wie die stille, arbeitsame Mona.
Die Bewohner erweisen sich als freundlich und lieben ihren charismatischen Seelsorger bald
von Herzen. Wenn gleichwohl von Beginn an eine gewisse Schwermut über der damit
einsetzenden Geschichte zu schweben scheint, so geht sie von Anton, dem Postschiffer, aus,
der eingangs und zwischendurch über das Geschehen sinniert und schon immer eine Gabe
hatte, Zukünftiges zu erahnen.
Mit seinem ersten Eindruck von der Ankunft Petters auf der Insel mit dem Pfarrhaus neben
der kleinen Kirche und dem Friedhof eröffnet Ulla-Lena Lundberg ihren bereits mit dem
renommierten Finlandia-Preis 2012 ausgezeichneten Roman Eis. Wenn die
finnlandschwedische Erfolgsautorin in ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Werk diese
Inselwelt, die von den rauen Naturgewalten mit kurzen Sommern und endlosen Eiswintern
umtost werden, mitsamt ihren eher schwerblütigen Menschen so authentisch beschreibt, tut
sie dies aus eigenem Erleben. Sie selbst wurde hier 1947 als Tochter des Inselpfarrers
geboren und vieles des Erzählten ist biografisch.
Dazu gehört auch die uralte Zwietracht zwischen dem östlichen und dem westlichen Dorf,
die der leutselige Geistliche mit seinem Talent zum Versöhnen so erfolgreich angeht, dass
neue, freundliche Zeiten anbrechen.
Obwohl die viele Arbeit mit den weiten Wegen, die er mit dem Fahrrad oder in den harten
Wintern mit dem Tretschlitten bewältigt, ihn sehr oft von zu Hause fernhalten, ist die
kleine Familie glücklich.
Mona erledigt dabei nicht nur die Hausarbeit und bewirtet die Gäste, sie versorgt auch
den Stall mit zwei Kühen, drei Schafen und einigen Hühnern. Es herrscht ein einfacher
und zugleich wunderbarer Rhythmus des Lebens mit dem Alltag von viel Zwischenmenschlichem,
den Traditionen und den Gebräuchen. Zudem genießt Petter bald auch die Freundschaft zu
seinem benachbarten älteren Pastorenkollegen.
Viele kleine Geschichten fügen sich zu einem Ganzen zusammen und dieses vermeintlich
Einfache, geradezu Banale entwickelt in der unaufgeregten und dennoch unglaublich
intensiven Erzählkraft dieser Autorin eine einzigartige Sogwirkung. Und dann schlägt das
Schicksal nach vier guten Jahren abrupt zu, als Petter Kummel in einer Winternacht auf dem
Heimweg mit dem Rad ins Eis einbricht. Wie die Autorin seinen Todeskampf schildert, geht
tief unter die Haut, und das um so mehr in dem Wissen, dass ihr Vater auf eben diese Weise
umkam.
Ohnehin verzaubert Lundberg den Leser mit ihrer Prosa von herber Poesie, die sensibel und
zugleich voll des echten Lebens ist, dabei ebenso bildstark und tiefgründig wie
warmherzig. Eis ist ein ganz großes Stück Literatur, das unprätentiös und
klar wie ein Gebirgsbach zwei Botschaften mit sich trägt: wie wichtig jeder einzelne
Mensch ist und dass man erst weiß, wie groß ein Glück war, wenn es zerbrochen ist.
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