AMY TAN: „DAS KURTISANENHAUS“


Shanghai 1905, die siebenjährige Violet Minturn hat einige Gewissheiten: sie ist in jeder Beziehung ein US-Girl und Mutter Lulu die einzige weiße Frau, die ein Erster-Klasse-Kurtisanenhaus in der quirligen chinesischen Großstadt betreibt. In Wahrheit jedoch weiß sie selbst über ihre Herkunft herzlich wenig, ganz im Gegensatz zu dem, was sie über die Vorgänge in einem solchen Haus erzählen kann.
Und das tut die Ich-Erzählerin auch zu Beginn von Amy Tans neuem großen Roman „Das Kurtisanenhaus“, bei dem schon die Entstehungsgeschichte außergewöhnlich ist. Bei einem Museumsbesuch stieß die chinesisch-stämmige US-Erfolgsautorin auf Fotos aus alten Shanghaier Zeiten, die Frauen in einer Art gekleidet zeigten, wie nur die Kurtisanen dort auftraten. Diese in einem Schönheitswettbewerb zu den „zehn Schönsten von Shanghai“ Gekürten waren auf jeden Fall solche Liebesdienerinnen der gepflegten edlen Art.
Doch genau solch ein Bild hatte Amy Tan auch von ihrer chinesischen Großmutter und es war in jenen Jahren aufgenommen worden. Acht Jahre lang recherchierte sie nun für einen Roman, in dem das Treiben dieser legendären Frauen Dreh- und Angelpunkt ist. Wie schon zuvor spinnt die Autorin darin eine große Mutter-Tochter-Geschichte, die hier jedoch gleich mehrere Varianten bekommt.
So wird es für Tochter Violet ein ungeheurer Schock, als sie erfährt, dass der ihr bis dato unbekannte Vater der mittelmäßige Maler Lu Shing ist – ein Chinese! Für ihn hatte ihre Mutter sogar die Heimat verlassen, um in Shanghei voll aufzulaufen, denn eine schwangere Amerikanerin kam als akzeptable Braut für den ältesten Sohn einer traditionellen chinesischen Familie absolut nicht in Betracht. Schließlich wiegt die Macht einer chinesischen Familie „so viel wie 10.000 Grabsteine.“
Mit viel Geschäftssinn und einer einheimischen Freundin gelang es Lulu Minturn, ein Teehaus zu eröffnen und es bis zum „Verborgenen Jadepfad“, einem der besten Kurtisanenhäuser aufzubauen. Nun aber ändern sich die Zeiten, 1912 muss Kaiser Puyi abdanken und unruhige Zeiten ziehen herauf. Gerade auch für Ausländer und das gilt selbst für die wenig chinesisch aussehende Violet, die die Sprache allerdings perfekt beherrscht. Als Lulu dann auch noch vom lange ferngebliebenen Lu Shing hört, dass der gemeinsame Sohn Teddy – von dem Violet bis dahin ebenfalls nie gehört hatte – in den USA in Gefahr sei, will sie mit der Tochter heimkehren.
Durch üble Machenschaften ihres Liebhabers Fairweather aber geht sie ohne Violet an Bord des Schiffes und ahnt nicht, dass es eine Trennung auf Jahrzehnte werden wird. Der Ganove hat sie infam ausgetrickst und ihre Tochter an das mächtige Syndikat der „Grünen Bande“ verhökert. Es sind herzzerreißende Szenen, wie Violet die Trennung und die Gefangennahme in einem anderen Kurtisanenhaus durchlebt. Hatte sie eben noch auf die „Blumenschönheiten“ in Mutters Haus herabgeschaut, wird sie nun genau in ein solches Leben gezwungen.
Bei allem Leid muss sie noch froh sein, dass ihr mit der zwölf Jahre älteren Zauberkürbis, einer früheren Kurtisane ihrer Mutter, eine wahre mütterliche Freundin zur Seite steht. Klar aber ist Violets Bestimmung in diesem Haus der käuflichen Liebe in einer exklusiven Ausformung mit langer Tradition und weit entfernt vom Betrieb eines normalen Bordells. Für Violet heißt es jetzt, die feine Kunst der Kurtisanen zu erlernen, denn es steht fest: an ihrem 15. Geburtstag soll ihre feierliche Defloration stattfinden. Ein solches Ereignis gehört zum Edelsten, was Kunden geboten werden kann, und das Privileg wird meistbietend versteigert.
In einem langen Monolog ist es nun Zauberkürbis, die bis ins Detail die Feinheiten all dessen ausbreitet, was eine jungfräuliche Kurtisane wissen und können muss. Schließlich geht es bei den Künsten einer Kurtisane um weit mehr, als die möglichst raffinierte sexuelle Befriedigung des Kunden. Es ist ein einzigartiger Festbericht, als der große Tag für Violet kommt. Und sie hat bei allem Leid das Glück, dass mit dem gut aussehenden Loyalty Fang ein kultivierter und noch junger Mann diesen Ehevertrag auf ein Jahr ersteigert hat.
Bis in die Feinheiten erfährt der Leser von dieser aus heutiger Sicht kaum vorstellbaren Beziehung. Die für Violet allerdings weitreichende Folgen haben soll, da beide Partner tiefe Gefühle entwickeln. Bis ausgerechnet Fang ihr einen weiteren, ähnlich schicksalhaften Kunden zuführt, als ersten Ausländer den von seiner Familie getrennt lebenden Amerikaner Edward Ivory. Mit dem aus käuflicher bald echte Liebe erwächst und als sie von ihm schwanger wird, kann sie sich sogar vom Dasein als Kurtisane losreißen.
Doch das Glück wird schon recht früh von der Spanischen Grippe zerstört, die nach dem Ersten Weltkrieg Millionen Menschen dahinrafft. Aber selbst das kleine Glück als Witwe mit gefälschten Papieren zerbricht 1922, als die echte Mrs Ivory ihr Tochter Flora entreißt und sie das Schicksal bis in die finsterste Provinz und dort fast in den Abgrund führt.
Damit jedoch wird dieser mit viel Atmosphäre erzählte Roman noch immer bewegender mit packenden Volten, wie sie das Leben zuweilen bereithält. Amy Tan schreibt in breiter Prosa, mal ausgesprochen poetisch, dann wieder lebensnah bis drastisch und natürlich bietet eine Geschichte mit diesem Thema außer dem exzellent eingewobenen Spannungsfeld zwischen den Kulturen auch zahlreiche erotische Passagen, die teils an „Jin Ping Mei“, den großen expliziten Sittenroman Chinas aus dem 16. Jahrhundert erinnern.
Mag manches auch sehr ausführlich erzählt erscheinen, so sollte man sich gleichwohl darauf einlassen, denn es entwickelt sich eine intensive Sogwirkung und man wird mit einem sprachgewaltigen Lesegenuss mit viel psychologischem Feingefühl und menschlicher Tiefe belohnt, von den exotischen Besonderheiten ganz abgesehen.

# Amy Tan: Das Kurtisanenhaus (aus dem Amerikanischen von Elke Link); 701 Seiten; Goldmann Verlag, München; € 22,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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