DAVE EGGERS: DER CIRCLE
Mae Holland fühlt sich wie im Himmel, als sie mit ihren gerade 24 Jahren auf den
glanzvoll gestalteten Campus von Circle kommt, um ihren neuen Job anzutreten.
Schließlich ist der weltweit größte Internetkonzern der angesagteste Arbeitgeber, den
man sich vorstellen kann.
Einst vom geheimnisumwobenen Ty Gospodunov ersonnen und heute von ihm sowie Eamon Bailey
und Tom Stenton als den Drei Weisen geführt, dürfte er mit 90 Prozent Marktbeherrschung
der global einflussreichste Software-Riese sein. Und Mae, die den Job über ihre frühere
Kommilitonin Annie ergattert hat, die selbst schon hoch in die Firmenhierarchie
aufgestiegen ist, lernt schnell die genialen Neuerungen kennen und schätzen, die die
Grundlagen einer weltumspannenden Netzkontrolle sind.
Wie die Weltbeherrschung funktioniert und wie das All- American-Girl Mae zu entscheidenden
Fortschritten beiträgt, davon erzählt US-Erfolgsautor Dave Eggers in seinem verwegenen
neuen Roman Der Circle. Anklänge an die beiden berühmtesten
Dystopie-Klassiker 1984 von George Orwell und Schöne neue Welt
von Aldous Huxley sind unübersehbar. Während diese beiden unvergessenen Visionen
allerdings den deutlichen Duktus von ScienceFiction haben, ist bei Eggers die ganz nahe
Zukunft zu spüren, zumal etliche der aufgebotenen technischen Errungenschaften bereits
zumindest im Ansatz existieren.
Den besonderen Unterschied jedoch macht insbesondere Hauptfigur Mae aus, denn diese ganz
und gar heutige junge Frau hat zwar eine Elite-Universität absolviert, ist aber
gleichwohl von wenig eigenständigem oder gar kritischen Intellekt durchdrungen. So wird
sie nicht etwa die klassische Gegenspielerin des System, vielmehr befürwortet sie es mit
ebenso viel Überzeugung wie Naivität. Schnell erwächst sie zur massenkompatiblen Ikone
im System, an dem Baley, der infamste der Drei Weisen, die weltweite Schar der Netzjünger
andockt.
Ähnlich dem Orwellschen Neusprech verkündet Mae die hehren Grundsätze der neuen
Herrschaft des Volkes über alles Volk, die da lauten: Geheimnisse sind Lügen
- Teilen ist Heilen - Alles Private ist Diebstahl. Dazu dienen
dann auch die speziellen Personenkameras, die jedes Erleben posten, zur Abstimmung
stellen, wobei die faszinierte Mae einerseits sehr erfolgreich als Identifikationsfigur
funktioniert, andererseits aber auch gnadenlos von den allgegenwärtigen Rankings
abhängt. 97 Prozent Zustimmung der Netzgemeinde sind da ein toller Wert, sie muss dennoch
grübeln, wieso es 3 Prozent negative Voten geben konnte.
Zur beängstigenden Qualität dieses immerwährenden Volkswillens trägt neben der
Allroundüberwachung eines jeden über alles und jeden auch Gospodunovs Geniestreich des
TruYou bei, das innerhalb eines Jahres das Internetmonopol errang. Das simple
Konzept koppelt alle Netzaktivitäten samt Identität, Passwort und Zahlungssystem an ein
einziges, lebenslanges Online-Passwort unter dem jeweiligen Echtnamen. Hinzu kommt der
Aufbau völliger Sicherheit durch Millionen von Kameras nach dem verlockend naheliegenden
Gedanken, dass der Mensch besser wird, wenn er sich stets beobachtet weiß.
Auf dieser Basis erklären nun auch immer mehr Politiker ihre Transparenz und
niemand kann wagen, sich dem zu verschließen, ohne gleich in Verdacht zu geraten. Als
ausgerechnet die strahlende Circle-Ikone Mae einen eher läppischen kleinen Ausreißer
begeht und das unbedacht und ohne jede Absicht, erlebt sie vor der versammelten
Netzgemeinde einen Büßer-Auftritt nach Art stalinistischer Selbstkritik. Schon bei einer
solchen Lappalie schäumt die Volksdiktatur auf, bei einer denunzierten und durch eines
der neuen Tools aufgedeckten Straftäterin gerät das jedoch beinah zur Lynchjustiz.
Zu den bemerkenswertesten Dialogen gehört dann jener mit Mercer, Maes Ex-Freund, einem
Kunsthandwerker, Typ Naturbursche und ehrlicher Schluffen und vielleicht der letzte
Normaldenkende: Deine Tools haben Klatsch und Tratsch, Hörensagen und Behauptungen
auf die Ebene gültiger, regulärer Kommunikation erhoben. In frappierender Weise
entlarvt gerade dieses Streitgespräch mit der gänzlich verständnislosen
Circle-Propagandin ihre Hohlheit, für die Privates, geschlossene Türen, Intimität und
die Freiheit des Verschwindens als Werte nicht mehr relevant sind.
Das Alles liest sich sehr bildhaft und unterhaltsam, auch wenn die Hochglanzpropaganda und
manche Plattitüden eben ganz auf dem Niveau von Mae und der Circle-Gemeinschaft
zuweilen nerven. Gerade das jedoch ist konsequent in diesem Stil, denn hier drückt
ja kein düsteres Staatssystem mit Gestapo und Folterkellern wie in 1984,
vielmehr gibt sich die Internetkrake als heimtückisch fürsorglicher Tyrann, bei dem die
allumfassende Netzgemeinde eine totalitäre Volksherrschaft ausübt. Bleibt ein Hauch von
Hoffnung durch den geheimnisvollen Kalden, der Mae verstört. Könnte er ein Gegenspieler
zu all den willfährigen oder willfährig gemachten Circlern sein oder eine noch
perfidere Sonderrolle haben?
Fazit: ein starkes Stück Zukunftsliteratur mit allen Qualitäten zum Klassiker, das
ängstigt, weil es so verdammt nahe zu liegen scheint und so vieles darin schon so real
ist.
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