A.M. HOMES: „AUF DASS UNS VERGEBEN WERDE“


George Silver ist elf Monate jünger als sein Bruder Harold, dominiert diesen aber von klein an mit einer Egomanie, die ihn zum erfolgreichen Fernsehproduzenten aufsteigen lässt. Schöne Frau, schönes Haus nahe New York, zwei Kinder und allerlei Extravaganzen inklusive Liebschaften. Im völligen Gegensatz zu Harold, dem linkischen Geschichtsprofessor hat dieses Alphatier einiges allerdings einiges an Temperament zu viel in sich.
Und das führt schließlich zu seinem spektakulären Absturz. Wie der nicht nur sein Leben gänzlich umkrempelt sondern auch zur Selbstfindung Harolds führt, davon erzählt die Erfolgsautorin A. M. Homes in ihrem in den USA bereits preisgekrönten Roman „Auf das uns vergeben werde“. Ein flüchtiger aber intensiver Kuss, den Schwägerin Jane ihm heimlich am Thanksgivingday gibt, hat nicht nur für Harold ungeahnte Folgen. Viel direkter jedoch wirkt erstmal der fatale Unfall, den George mit seinem bulligen Wagen verursacht.
Der unverletzte aber irgendwie desorientierte Manager will offenbar nicht wahrhaben, dass er ein Ehepaar bei dem Zusammenprall tödlich und dessen Sohn schwer verletzt hat. Prompt landet er in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses und redet sich immer heftiger ins Abseits. Während Harold sich eher hilflos um ihn kümmert und dann auch noch seine geschäftstüchtige Frau verreist, verfällt er umgehend Janes Reizen und im Haus des Bruders schläft er mit ihr.
Noch in dieser ersten verheißungsvollen Nacht tut sich jedoch ein Abgrund auf, denn der durchgeknallte George bricht aus der Psychiatrie aus und er, der in allem anmaßende Wüterich, erwischt Harold und Jane in flagranti. Völlig von Sinnen prügelt er seine Frau in den Hirntod. Für die eigentliche Geschichte dieses Romans aber ist dieser dramatische Auftakt mit der unfassbaren Gewaltorgie nur die Ouvertüre für einen grandiosen Bogen über ein Jahr bis zum nächsten Thanksgivingday.
Nun steht Harold im Mittelpunkt, der völlig aus seinem alten Trott gerissen wird. Weil er muss und weil sich mitschuldig an Janes Elend fühlt. Plötzlich ist er Vormund über seinen weggesperrten Bruder und dessen Vermögen, vor allem jedoch auch für dessen Kinder Nathaniel, zwölf, und die ein Jahr jüngere Ashley, die vorläufig noch im Internat weilen. Hinzu kommt das Versorgen von Georges Haustieren, allerdings reicht die kühle Clair bald die Scheidung ein und er muss froh sein, im nun verwaisten Haus des Bruders wohnen zu können.
Doch die Veränderungen treiben ihn weiter vor sich her. An der Universität verliert er seinen Job, weil sein Spezialgebiet, Präsident Nixon und seine Ära, angeblich keine Relevanz mehr hat. Inzwischen muss er miterleben – und noch viel schlimmer: darüber mitentscheiden – dass bei Jane die Maschinen abgeschaltet und ihre Organe als Spenden freigegeben werden. Er erleidet einen schlaganfall und er betäubt seine Trauer mit Sex-Dates, die er per Internet ausmacht.
Nicht nur dabei kommt es zu einer Reihe hinreißend tragikomischer Szenen. Ungewollt sammelt sich um ihn eine regelrechte Patchwork-Familie an. Zu den Kindern des Bruders kommt Ricardo, der recht schwierige Sohn der Leute, die George zu Tode gefahren hat, und schließlich adoptiert er gewissermaßen Janes betagte Eltern, die teils dement sind und ständig auf ihm dem von jeher ungeliebten Schwiegersohn George herumhacken. Hinzu kommen köstliche Ausflüge in amerikanisch-jüdische Befindlichkeiten, Rassismus, Homosexualität und viele andere hochaktuelle Probleme, wie sie nicht nur in Amerika relevant sind.
Genüsslich und mit viel schwarzem Humor aber auch ungeschönter und teils deftiger Sprache entlarvt die Autorin so manche Obsessionen und Macken. Mag George ein zügelloser Gockel sein, so ist doch auch Harold in manchen seiner Schwächen nicht gerade schimmelfrei. Und hier ist A. M. Homes das Kunststück gelungen, Harold absolut autentisch als Ich-Erzähler durch den gesamten Roman zu schicken. Die große Meisterschaft, mit der sie so viel Reales und Kaputtes aus der Gegenwart zusammenführt, ohne jemals zu überziehen, stellt sie durchaus in eine Reihe mit Legenden wie Philip Roth oder John Updike. Fazit: ein großer nicht nur amerikanischer Roman unserer Zeit.

# A. M. Homes: Auf dass uns vergeben werde (aus dem Amerikanischen von Ingo Herzle); 660 Seiten; Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln; € 22,99

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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