PHILIPP MEYER: „DER ERSTE SOHN“

 
Der Wilde Westen als Buchthema, das klingt nach Unterhaltungsschmöker mit heldenhaften Cowboys, Sheriffs und Texas Rangers, aber auch nach Indianern als ebenso wilden wie edlen Kriegern, die um ihr angestammtes Land kämpfen. Mit seinem gewaltigen Epos „Der erste Sohn“ sprengt Philipp Meyer diese engen Grenzen jedoch und reißt jegliches Klischee von diesem Genre.
Wildwest ja und endlose Weite in Texas, das ist die Situation, in der eine Geschichte einsetzt, die einen Bogen über vier Generationen schlägt und sie beginnt mit dem Rückblick eines Hundertjährigen. Eli McCullough war 1836 der erste in der soeben entstandenen Republik Texas geborene Sohn. Und die Farmerfamilie zieht in eine abgelegene Gegend, die zu den Jagdgründen der Comanchen gehört. Eine Landschaft von paradiesischer Schönheit und Fruchtbarkeit. „Das einzige Problem war, seinen Skalp zu behalten.“
Mit 13 Jahren wird Eli nicht nur Augenzeuge, wie die Comanchen beim Überfall auf ihre Ranch seine Mutter und seine Schwester vergewaltigen und abschlachten, die als besonders kriegerisch und blutrünstig geltenden Indianer verschleppen den Jungen. In den nächsten Jahren formen sie ihn zu einem Comanchen-Krieger mit einer Härte, wie sie für sie selbstverständlich ist. Er erlernt ihre Fähigkeiten, die er so bedenkenlos anwendet wie er das freizügige Sexleben im Indianerdorf genießt.
Eli schafft es später vom Indianerkrieger zum Texas Ranger, Viehbaron und allseits gefürchteten Großgrundbesitzer. Er bekennt sich als typischer Vertreter jener weißen Texaner, die den Siedlern das Land wegnahmen, das diese Indianern abnahmen, die es ihrerseits anderen Indianern gestohlen hatten. Und er gehört zu jenen, die sein Sohn Peter so beschreibt: „Ein Fossil aus einer Zeit, wo man sich nahm, was man haben wollte, und keinen Grund sah, es rechtfertigen zu müssen.“
Dieser Peter ist der zweite Ich-Erzähler, als sensibler Zauderer eine einzige Enttäuschung für „Colonel“ Eli. In seinen Tagebuchauszügen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs ertönt das schlechte gewissen über diese gesetzesfreien Machenschaften. Doch ausgerechnet in seine Ära fällt auch jener mordlüsterne Vertreibungskrieg gegen die Mexikaner Anfang des 20. Jahrhunderts. Ganz in die Fußstapfen des Sippengründers Eli McCullough tritt dagegen dessen Urenkelin Jeanne Anne, die dritte Erzählstimme, die nun als alte Frau von 86 Jahren nach einem Schlaganfall über ihren eigenen Kampf um Land, Macht und Öl sinniert. Die Versuche der Eltern, sie zu einer Dame zu machen, schlugen fehl, stattdessen kämpfte sich die Hartgesottene zu einer der mächtigsten und reichsten Frauen der Welt hoch.
Nur selten obsiegt in diesem extrem harten Ringen derjenige, der das geschriebene Recht auf seiner Seite hat. Sozialdarwinismus in reinster Provenienz macht hier vor keiner Brutalität und Skrupellosigkeit halt. Die Gier hat ein schlichtes Motto: „Dein Stück Kuchen ist für mich eines weniger zu essen.“ Da stehen die drei so unterschiedlichen Erzähler in einem zwingenden Spannungsfeld zueinander und erzählen doch eigentlich weit mehr als nur die blutgetränkte Geschichte des Vielvölkerstaates Texas.
Nicht von ungefähr reicht dieses ungebärdige Epos vom ersten texanischen Krieg von 1836 bis zum ersten Irak-Krieg und es fällt der verräterische Satz: „Die Kriegsseuche war eine Krankheit des weißen Mannes.“ Dieser exzellent geschriebene Wildwest-Roman ist weit mehr als das und unbedingt als große Literatur anzusehen. Zartbesaiteten Gemütern ist aber dringend davon abzuraten, denn manche der unzähligen Gewaltszenen sind von kaum erträglicher Grausamkeit.
Fazit: so hat die Geschichte des Staates Texas wohl noch niemand beschrieben, derartig schonungslos, rasant und auf drastische Weise ganz nah an der Realität. Ein Stück amerikanischer Geschichte als wahre Herausforderung für jeden Leser.

# Philipp Meyer: Der erste Sohn (aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog); 606 Seiten; Knaus Verlag, München;


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