RACHEL SIMON: "DIE GESCHICHTE EINES SCHÖNEN MÄDCHENS"

November 1968, in einer Regennacht wird die 70-jährige frühere Lehrerin Martha in ihrem abseits gelegenen Haus in ihrer seit langem genossenen Abgeschiedenheit aufgeschreckt. Vor der Tür stehen eine zerlumpte junge Frau mit einem Neugeborenen im Arm und ein Schwarzer, der offenbar taubstumm ist. Augenscheinlich sind die Beiden auf der Flucht und Martha lässt sie herein.

Damit beginnt Rachel Simons bewegender Roman "Die Geschichte eines schönen Mädchens", der unverzüglich eine bis zum Schluss anhaltende Sogwirkung entfaltet. Linnie und Homan sind vor wenigen Tagen aus der Pennsylvania State School entkommen, was Martha aber erst erfährt, als noch am selben Abend der Schulleiter mit ein paar raubeinigen Wärtern bei ihr aufkreuzt.

Willenlos lässt sich Linnie in eine Zwangsjacke stecken und abführen, während es Homan gelingt wegzulaufen. Was die Häscher aber nicht einmal ahnen ist, dass das junge Mädchen, das anscheinend außer "Nein-Nein" nichts sagen kann, schwanger war und nun entbunden hat. Das Baby bleibt unentdeckt und Martha, die einst ihr einziges Kind gleich nach der Geburt verlor, gibt Linnie zu verstehen, dass sich sich darum kümmern werde. Damit verknüpfen sich vier Lebensläufe auf Jahrzehnte.

Linnie wird in das Gefängnis zurückgebracht, denn als das empfindet sie diese Einrichtung für schwer Erziehbare und geistig Minderbemittelte völlig zu Recht. Vor elf Jahren brachten ihre Eltern sie hierher, weil sie mit dem sehr hübschen aber zurückgebliebenen Mädchen nichts anzufangen wussten. Misshandlungen, Demütigungen und jedes Fehlen von Zuwendung oder gar Förderung sorgen an diesem Ort für rund 3000 Insassen für ein erbärmliches Leben. Und es entspricht den Realitäten zu jener Zeit, wie die Autorin im Epilog anmerkt.

Linnie hat trotz allem ein ganz klein wenig Glück, dass sich Kate als die einzige fürsorgliche Aufsicht ihrer immer wieder heimlich annimmt. Und Kate erkennt und fördert auch Linnies einziges Talent: kaum fähig sich mit Worten auszudrücken, versteht sie dies um so besser mit gemalten Bildern, und nimmt dabei im Laufe der Jahre eine kaum zu erhoffende Entwicklung.

Die gelingt in gewisser Weise auch Homan, der entgegen offiziellen Annahmen damals nicht im nahen Fluss ertrunken sondern entkommen ist. Martha ihrerseits zeigt echte Großmuttergefühle für das Baby, das sie Julia nennt. Aus Furcht vor Entdeckung verlässt sie ihr Haus und zieht die Kleine als Enkelin auf. Sie weiß zwar nicht, was aus Linnie und Homan geworden ist, wohl aber, dass er offensichtlich nicht als leiblicher Vater in Frage kommt. Dass eine Gewalttat dahinter steckte, erfährt man allerdings erst viel später.

Eines aber zieht sich mit bewegender Gewissheit durch diesen ebenso emotionalen wie intelligenten Roman: die unverbrüchliche Liebe und Sehnsucht zwischen den Menschen und hier insbesondere die zwischen den beiden damals Geflüchteten. Für sie war Homan "Buddy" weil sie weder seinen Namen noch seine Anstaltsbezeichnung "Nummer 42" kannte, und sie vermisst ihn intensiv. Für ihn wiederum, der ihren Namen nie gehört hatte, war sie immer nur "das schöne Mädchen".

Und schließlich spielt der Poseidon Leuchtturm eine schiksalhafte Rolle in dieser Geschichte, für die es zwei Beweggründe gab. Rachel Simon hatte eine geistig behinderte Schwester, die die Eltern bewusst nicht weggegeben haben, und sie stieß eines Tages auf ein Buch über einen taubstummen Schwarzen,. das einen wahren tieftraurigen Fall erzählte. Sie hat daraus einen großartigen Roman gemacht, der zutiefst menschlich ist und dabei so lebensprall und spannend, dass er unbedingt verfilmt gehört.

 

# Rachel Simon: Die Geschichte eines schönen Mädchens (aus dem Amerikanischen von Ursula Walther); 415 Seiten, Klappenbroschur; Rütten & Loening Verlag, Berlin; € 17,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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