MICHAEL KÖHLMEIER: "DIE ABENTEUER DES JOEL SPAZIERER"

Andras Fülöp, geboren 1949, wächst wegen des noch jugendlichen Alters seiner Mutter bei seinen Großeltern auf. Während der stalinistischen Ära Ungarns geraten beide in die Fänge geheimdienstlicher Verfolgungen, der jetzt Vierjährige aber bleibt bei den Verhaftungen unentdeckt in der großen Wohnung zurück.

Das allerdings wird für den Kleinen nicht etwa zum Trauma, vielmehr erlebt er die fünf Tage allein als eine wunderbare Zeit der Alleinherrschaft. Hunger und Durst kann er stillen, vor allem aber ungelenkt den Dingen der Welt seine eigene Deutung geben. Und wie er später feststellt, ist dies die Zeit, in der seine Seele ihre Prägung fürs Leben erfährt, indem sie für immer im Glücksgefühl dieser einsamen Tage verharrt.

Das ist auch quasi die Geburt des bis zuletzt faszinierenden Helden, den der österreichische Erfolgsautor Michael Köhlmeier in den Mittelpunkt seines neuen Monumentalwerks "Die Abenteuer des Joel Spazierer" stellt. Der hübsche sommersprossige Knabe mit den feinen Manieren und dem von klein auf ebenso gewinnenden wie manipulationsfähigen Wesen hat jedoch nicht nur dank seiner speziellen Bewusstwerdung keinerlei Ansatz zu schlechtem Gewissen oder gar moralischen Ansätzen. Auch die Gene haben ein wenig dazu beigesteuert, denn schon die lüsterne Großmutter nutzte ohne Skrupel ihren liebesblinden Professor aus, um einen Beststeller über Pharao Echnathon zu verfassen.

Die ganze Familie flüchtet schließlich im Sommer 1956 nach Österreich - zu früh, um als Emigranten willkommen zu sein. Worauf sie glatt die Folgen des Ungarn-Aufstands ausnutzt, um im Herbst ein zweites Mal ins Land zu flüchten, nun in die offenen Arme der jetzt geradezu hilfsduseligen Österreicher. Und spätestens hier beginnt die seltsam mäandernde Karriere des Jungen, indem er sich als Strichjunge (mit neun Jahren!) ein kleines Vermögen erarbeitet. Er wird von einem ehemaligen ungarischen Geheimdienstler entführt und er erschießt bei einem Einbruch die Mutter eines Schulkameraden.

Im Gefängnis folgt nun seine eigentliche Häutung zur großen Schelmenfigur. Hier lernt der Junge alles noch fehlende Wichtige für das künftige Leben, Matura (Abitur) inklusive. Als er mit 25 Jahren entlassen wird, hat er offiziell den Namen Joel Spazierer angenommen und für ihn steht fest: "Alles kann aus uns werden." Was für ihn mit Lug und Trug, mit Fälschen und vielen verschiedenen Identitäten verbunden ist.

Charme, beste Manieren und überdurchschnittliche Intelligenz sorgen für Höhenflüge und wenn er trotzdem mal fällt, dann nie so tief, als dass ihn die nächste Hochstapelei nicht wieder nach oben bringen könnte. Jetzt mit 60 Jahren, da er auf sein Leben zurückblickt, nennt er eine Grundregel für das Gelingen: als guter Lügner müsse man ein guter Stratege und Komponist sein. Wobei er 1979 sein Meisterstück in Gang setzt: als angeblicher unehelicher Enkel von Ernst Thälmann, der Lichtgestalt ostdeutscher Kommunisten, beantragt er politisches Asyl in der DDR.

Allein schon dieses Possenspiel, das ihn bis zum umjubelten Theologie-Professor und Sonntagsgast der Honneckers bringt, ist eine grandiose Geschichte für sich und reicht bis hin zu einem makabren Nachtspaziergang mit Stasi-Chef Erich Mielke und hinreißenden Szenen aus dem real-existierenden Alltag der zerbröselnden DDR. Nie schlägt Joel eine Ader des Selbstzweifels: "Ich bin ein gesegneter - Egoist." Und er gewinnt trotz seines moralfreien Treibens auch und bis zuletzt die Sympathien des Lesers, denn mag er auch kein Guter sein - einen Bösen mag man ebenfalls nicht in ihm sehen.

Unbändige Fabulierkunst, aberwitzige Wendungen, aber auch latente Ironie und hintergründige Weisheit prägen diesen virtuosen Roman um einen Verführer, der da ganz frei von Eitelkeit sein Leben erzählt und sich dabei gängigen Wertesystemen lässig entzieht. Fazit: Michael Köhlmeier hat damit nicht weniger als ein grandioses Meisterwerk geschaffen.

# Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer; 653 Seiten; Carl Hanser Verlag, München; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)