JOCHEN HELLBECK: "DIE STALINGRAD-PROTOKOLLE"

Die Schlacht von Stalingrad von September 1942 bis Februar 1943 wird in den meisten westlichen Publikationen als eine deutsche Tragödie dargestellt, als Opfergang, der rund 250.000 deutsche und verbündete Soldaten das Leben kostete. Vielfach wurde das barbarische Ringen in Filmen, Romanen, Sachbüchern und Auswertungen von Feldpostbriefen dokumentiert.

Was jedoch fasst gänzlich unterblieb, war der objektive Blick auf der Perspektive der Gegenseite, denn die vermeintlichen Opfer waren ja die Aggressoren und Eroberer gewesen und die Zahlen der Umgekommenen auf jowjetischer Seite weitaus höher. Um so verdienstvoller ist Jochen Hellbecks Veröffentlichung "Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht". Der Professor für Russische Geschichte an der amerikanischen Rutgers University folgte einem Tipp aus russischen Kollegenkreisen zu einem fast vergessenen Schatz an Dokumenten und wertet ihn für dieses Sachbuch aus.

Das Ringen um Stalingrad war längst im Gange, als der Historiker Isaak Minz von der Akademie der Wissenschaften den Auftrag zur Dokumentation des Kriegsgeschehens erhielt. Im Dezember 1942 entsandte er auch vier Mitarbeiter in die heiß umkämpfte Stadt, die allein schon wegen ihres Namens von herausgehobener Bedeutung für beide Seiten war. 215 Augenzeugenberichte wurden nun während und in den Wochen nach der Schlacht niedergeschrieben und sie waren im allgemeinen sehr offen. Bis hin zu Bekundungen über eigene Schwächen und Feigheit, was mit ein Grund dafür war, dass die wertvollen Protokolle wegen zu viel Selbstkritik unter Verschluss kamen. Immerhin konnte der dann in Ungnade gefallene Minz sie retten, indem er sie erst im Sanatorium der Akademie und später im Keller des Moskauer Institut für Geschichte versteckte.

Erst 2006 gelangte die Kunde der Wiederentdeckung in einem russischen Archiv zu Hellbeck und alsbald wertete er die mit russischen Kollegen zusammen aus. Zu Wort gekommen waren damals - überwiegend mitten aus dem Kampfgetümmel heraus - unmittelbar beteiligte Menschen von einfachen Soldaten, Sanitäterinnen, Einwohnern bis hin zu zahlreichen Offizieren und Generälen. Zur Sicherung der Glaubwürdigkeit wurden oft bewusst Soldaten befragt, die Seite an Seite gekämpft hatten. Wenn sie also aus der persönlichen Perspektive berichteten, bestätigte oder ergänzte der andere das Geschilderte des Kameraden.

Ohnehin ist das eigentlich Sensationelle an diesen Augenzeugenberichten ihr Unmittelbarkeit. Authentischer geht es nicht, denn hier wird offen und teils recht schonungslos aus dem eben erlebten Geschehen und nicht aus einer späteren Erinnerung erzählt. Zugleich gibt es hier nicht die "Verfälschung" durch die objektive aber auch distanzierte Betrachtungsweise eines wissenschaftlich untersuchenden Historikers. Obendrein haben die damaligen Protokollanten "ungewöhnlich sorgfältig und detailliert" gearbeitet, wie der Buchautor ihnen anerkennend konstatiert.

Wegen der großen Fülle der Sammlung von rund 3000 Seiten hat Hellbeck nur neun der Protokolle weitgehend vollständig übernommen, unter anderem das des legendären Scharfschützen Wassilij Saizew. Ein spannendes plastisches Bild geben auch die Darlegungen von ranghohen Angehörigen der 38. Motorisierten Schützenbrigade, die Generalfeldmarschall Paulus gefangen nahmen. Und es werden manche falsche Blickwinkel geradegerückt, so die immer wieder verbreitete Darstellung, dass die deutschen Soldaten gegen Ende des Ringens müde und schließlich erleichtert über die Kapitulation waren.

Aus den Worten ihrer Feinde wird deutlich, dass der deutsche Widerstand bis zuletzt überwiegend erbittert und heftig war. Wenn nach westlicher Einschätzung seitens der russischen Soldaten viele Grausamkeiten begangen und häufig auch Gefangene erschossen wurden, so wird in den Aussagen tatsächlich kein Hehl daraus gemacht. Zugleich aber dokumentieren etliche Aussagen deutsche Kriegsverbrechen bis hin zu bestialischen Folterungen. Relativiert wird dagegen die massenhafte Liquidation von Rotarmisten durch eigene Offiziere und Politkommissare gemäß Stalins berüchtigtem "Befehl Nr. 227" gegen Feigheit und Desertion. Die tatsächlichen Zahlen stellen sich weit geringer dar, als in westlichen Medien kolportiert.

Zur Objektivierung trägt im Übrigen bei, dass auch einige Verhöre deutscher Gefangener sowie das Tagebuch einen Wehrmachtssoldaten offengelegt werden. Auch sie geben einen beklemmenden Einblick in das entsetzliche Leiden aller Beteiligten, das eben keine deutsche sondern für beide Seiten eine Tragödie war. Die Wirkung dieser bewegenden Dokumentation liegt gerade darin, dass das Entsetzliche so eindringlich authentisch und persönlich geschildert wird. Fazit: ein spektakuläres Sachbuch, das ungeheuer wertvoll für eine realistische Sicht auf eine der entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkrieges ist.

 

 

# Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht; 608 Seiten, div. SW-Fotos; S. Fischer Verlag, Frankfurt; 24,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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