E. W. HEINE: "MAGNA MATER"

Ein Paradies, gegründet auf den Prinzipien reiner Vernunft, birgt die letzten rund 10.000 Menschen der Erde auf dem pazifischen Inselarchipel Seeland. Wie der Philosoph Emmanuel Kant einst lehrte: "Drei Dinge stehen außerhalb aller Vernunft - die Religion, der Krieg und die Liebe".

In Seeland hat man diese Gefährdungen durch ein perfektes System abgeschafft. Eingeteilt sind die Menschen in die Masse der "Blühenden", die bis zum 40. Lebensjahr hormonell in einem glücklichen Zustand der vorpubertären Unbeschwertheit leben. Dann erfahren sie den kurzen Wandel zur Geschlechtsreife und auf der Insel Arkadien erleben sie Tage orgiastischer Freuden. Denen ein sanftes Ableben folgt, bei den nun geschwängerten Frauen allerdings erst, nachdem ihre Leibesfrucht der geheimnisvollen Geburtsstation überantwortet wurde.

Anders dagegen die Schwester des Ordens der reinen Vernunft, die als Todgeweihte darüber wachen, dass das glückselige System ungestört funktioniert. Wie die Ich-Erzählerin Mater Morituri in ihrer Lebensbeichte als dem Altern Unterworfene erklärt: "Der neue Mensch - seine Neuschöpfung bedurfte des Opfers der Elite".

Während also jegliche Religionen nicht nur abgeschafft sind sondern auch immer wieder ihr irrealer, der Vernunft widersprechender Inhalt ad absurdum geführt wird, thront als oberste Ordensschwester über allem die "Magna Mater" und nach dieser Großen Mutter ist auch E. W. Heines höchst ungewöhnlicher Roman benannt. Mag er auch seinen Rückblick auf unsere Gegenwart mit gnadenloser Sachlichkeit aus der Mitte des dritten Jahrtausends abgeben, man muss ihn trotzdem nicht als ScienceFiction einstufen, kommt er doch ganz ohne technische Spielereien oder Zukunftsgespinste aus.

Je mehr aber die Ich-Erzählerin von ihrem Werdegang als Novizin zur Mater berichtet, in dem sie das "normale" Frauwerden eher erleidet und dann auch so "unvernünftige" Dinge wie lesbische Verliebtheit und sogar eine heimliche ungewollte Schwangerschaft erlebt, wird die Richtigkeit dieses Systems als weise und richtig bestätigt. Und zugleich offenbaren sich seine feinen Schwächen und in Mater Morituri wachsen Zweifel.

Bis das gesamte Gefüge durch die Natur erschüttert wird, als ein Tsunami den Archipel schwer verwüstet. Plötzlich werden die "Blühenden" mit Tod und Altern konfrontiert, aber auch solche vernunftswidrige Gedanken wie die von höherer Gewalt und Vorsehung kommen auf: "Die Religion ist ein Heilmittel, das schlimmer ist, als die Krankheit, die es bekämpft."

Doch im Auftrag der Magna Mater soll die Ich-Erzählerin nun auch Vorfälle auf Arkadien untersuchen, wo sie auf die Skarabäer stößt, eine Art Orden, der für die Große Mutter die Begattungsorgien, das geordnete Ableben und die Geburten regelt. Morituri, die längst von solch unvernünftigen Empfindungen wie Sehnsucht, Mutterliebe und ähnlichem befallen ist, entdeckt Unfassbares und weiß schließlich, dass das Geheimnis aller Geheimnisse eine riesige Lüge ist.

Eine gefährliches Wissen, wie ohnehin aus der so sanft einsetzenden Geschichte eine sehr tiefgründige Spannungslektüre geworden ist. Und Mater Morituri spürt die tiefe Wahrheit: "Für die Vernunft gilt, was für die Sterne gilt. Sie leuchten, aber sie wärmen nicht." Fazit: ein faszinierender Roman über das Menschsein, subtil satirisch, elegant und sehr bildhaft geschrieben. Und er lässt sehr nachdenklich zurück.

 

# E. W. Heine: Magna Mater; 239 Seiten; C. Bertelsmann Verlag, München; € 18,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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