DAVIDE LONGO: "DER AUFRECHTE MANN"

Was passiert, wenn die Zivilisation der blanken Anarchie weicht, das beschwört der italienische Erfolgsautor Davide Longo in seinem wuchtigen Endzeitroman "Der aufrechte Mann" herauf. Im Italien der näheren Zukunft sind jegliche Wirtschafts- und Staatsordnung zusammengebrochen. Es herrschen Gesetzlosigkeit und Chaos und viele Menschen versuchen, in die Schweiz oder nach Frankreich zu fliehen.

Eher apathisch verbleibt Leonardo, ein ehemaliger Literaturprofessor und Schriftsteller, der sich vor Jahren Ehe und Karriere durch eine Sex-Affäre verdorben hat, im Haus seiner verstorbenen Eltern in einem Dorf mit den Verhältnissen klar zu kommen. Hier ist die Versorgungslage noch leidlich, Informationen aber sind wie überall Mangelware geworden, da die Medien ebenso wenig funktionieren wie die sonstige Infrastruktur und die sehr präsente Nationalgarde nutzt die undurchschaubare Situation auf ihre Weise.

In diese angespannte Athmosphäre platzt nun Leonardos Ex-Frau Alessandra nach Jahren der Trennung und bringt ihm die gemeinsame Tochter Lucia sowie den schwer gestörten Alberto aus ihrer späteren Ehe. Alessandra will ihren Mann in der Schweiz suchen und dann die Kinder nachholen - Leonardo wird sie jedoch nie wiedersehen. Stattdessen spitzt sich die Lage durch Plünderer und marodierende Banden nun auch im Dorf so zu, dass auch er sich mit den Kindern auf die Flucht begibt. Immer im Ungewissen, ob überhaupt noch irgendwelche Grenzen offen sind.

Verunsicherung, Angst, Entbehrungen und allgegenwärtige Gewalt spitzen sich zu und machen die Flucht zu einer Odyssee in eine jedem Wahnsinn anheim fallende Welt mit archaisch-rudimentären Regeln. Nur mühsam gelingt es dem durchgeistigten sanftmütigen Mann, seine 17-jährige Tochter, den schwierigen kleinen Alberto und seinen kleinen Hund - gerade Hunde stehen ganz vorn auf dem Speiseplan der hungernden Banden - durch die täglich neuen Gefahren zu führen.

Bis sie endgültig in die Apokalypse geraten, als eine Kinder- und Jugendbande des Trio gefangen nimmt. Von Drogen enthemmt leben diese Streuner nach den primitiven Gesetzen, die ihnen der große Richard vorgibt, ein selbsternannter Messias, der sich Lucia als Mätresse in Wohnwagen holt. Leonardo aber wird zum barbarisch geschundenen Clown, der in teils kaum erträglichen Szenen als Tänzer im Feuer zur Belustigung der völlig verrohten Bande herhalten muss.

Zugleich jedoch gibt es in diesen Passagen atemberaubende Momente, wenn Leonardo bis zum nächsten "Auftritt" in einem Käfig vegetieren muss und Nähe und Wärme einzig bei seinen Mitgefangenen findet, dem Elefanten David und der Eselin Circe. Als es tiefer nicht mehr gehen kann in seiner Entwürdigung, wächst der so unzulängliche Malträtierte schließlich auf eine geradezu biblische Weise über sich hinaus und erkämpft in einem unfassbaren Wahnsinnsakt die Freiheit für sich und Lucia wie auch für die beiden tierischen Freunde.

Man mag nur ahnen, ob es einen ganz schmalen Hoffnungsschimmer für die Flüchtlinge gibt durch diesen Leonardo. Kann es eine Moral nach dem Ende der Zivilisation geben, wenn nur das Prinzip "Homo homine lupus" (lat. = der Mensch ist des Menschen Wolf) herrscht? Davide Longo lässt den Leser beklommen zurück und der fragt nicht mehr nach dem Warum dieses Niedergangs. Im Gegensatz zu Cormac McCarthys "Die Straße", dem dieser Roman in manchem ähnelt, hat es hier nicht die schicksalhafte Katastrophe oder den immer wieder befürchteten großen Krieg gegeben.

Die ganze biblische Wucht dieses grandiosen Romans entfaltet der Autor durch seine spröde bildhafte Sprache, die durch ihre Sachlichkeit um so mehr unter die Haut geht und doch auch wunderbare poetische Lichtmomente einstreut. Fazit: Leonardo, dieser aufrechte Mann, ist zu einer unvergesslichen Figur geraten, die in die Literatur eingehen wird.

 

# Davide Longo: Der aufrechte Mann (aus dem Italienischen von Barbara Kleiner); 478 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 24,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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