BRADY UDALL: "DER EINSAME POLYGAMIST"

Es gibt zuweilen Romane, die so einzigartig sind, dass sie sich zu der kleinen Perlenkette von Unvergleichlichen gesellen. Brady Udall schaffte das vor Jahren mit "Der Bierdosenbaum" (auch als "Das wundersame Leben des Edgar Mint" bekannt) und das Gleiche gelang ihm mit seinem neuen Roman "Der einsame Polygamist" sogar so überwältigend, dass ihm die Medien bereits den Status einer dieser "Great American Novels" zugestehen.

Udalls Meisterschaft des schlichten und dennoch hintergründigen Erzählens zeigt sich schon im Eröffnungssatz: "Um es ganz einfach zu sagen: Dies ist die Geschichte eines Polygamisten, der eine Affäre hat." Wer jedoch meint, dieser Golden Richards sei vermutlich zu beneiden, liegt völlig schief. Vielmehr ist es mittlerweile so weit gekommen, dass der hünenhafte 45-Jährige bei der Heimkehr von seinen auswärtigen Baustellen erstmal das Betreten des großen Hauses hinauszögert.

Kein Wunder, denn drinnen erwartet ihn das blanke Chaos mit vier Ehefrauen, 27 Kindern zwischen drei und 17 Jahren und Hund Cooter. Man muss dem selbständigen Bauleiter dabei zugute halten, dass er sich das nicht freiwillig angetan hat. Vielmehr lebt der Mormone in einer Gegend im Südwesten des US-Staates Utah, wo fundamentalistische Kreise dieser Religionsgemeinschaft -

illegal und heimlich - noch immer die einst in ihrem Glauben verankerte Vielweiberei betreiben.

Reicher Kindersegen wird von den Kirchenoberen erwartet und zum Eheleben gehört ein komplizierter Plan, mit dem die Frauen die Nächte mit dem Gatten untereinander aufteilen. So auch bei den Richards, wo Ehefrau Nummer Eins Beverly die Hosen anhat in dieser offiziell absolut patriarchalischen Gesellschaft. Die zehnfache Mutter hat Golden gewissermaßen geerbt, denn eigentlich war sie die Braut seines Vaters. Der hatte dem Jungen mit seiner Herumtreiberei eine ärmliche und traurige Kindheit beschert, war im Alter aber unversehens zu etwas Vermögen gekommen. Und hatte obendrein die Frömmigkeit für sich entdeckt.

Doch vor der Hochzeit wurde Krebs bei ihm festgestellt und so fiel Beverly an den schüchternen Golden, der sich den Weisungen von Onkel Chick, dem Kirchenoberen, zu fügen hatte. Mittlerweile kamen die sehr verschiedenen Schwestern Nola und Rose hinzu. Schon lange bevor auch noch die viel jüngere Trish das Quartett vervollständigte, musste Golden für einen fatalen Fehler beim Bau des immerhin 650 qm großen Wohnhauses büßen: das hat nur zwei Badezimmer. Was sogar dazu führen kann, dass er sich in die Besenkammer verdrücken muss, um dort in einen Putzeimer zu pinkeln. Als gäbe es nicht auch so schon genügend Probleme mit den Befindlichkeiten der Ehefrauen, von den Wirren mit den ungebärdigen Kindern ganz abgesehen, wo dann der kleine Ferris meistens "unten ohne" herumläuft, wogegen der Hund Unterhöschen trägt.

Während Golden die umfangreichen ehelichen Pflichten nur noch müde oder gar nicht mehr bewältigt, leidet die 27-jährige Trisch unter sexueller Vernachlässigung. Und Rusty, der elfjährige "Familienterrorist" hat derartig übermäßig mit der allgemeinen Nichtbeachtung und der sehr persönlichen Pubertät zu tun, dass er schließlich drastisch reagiert und das mit dramatischen Folgen. Doch viele dieser Misshelligkeiten innerhalb der Riesenfamilie bekommt der geplagte Golden kaum noch mit, denn erstens ist er ohnehin nur nach außen der Vorstand und zweitens gehen die Geschäfte jetzt Ende der 70er Jahre so schlecht, dass er viel auswärts arbeiten muss.

Allerdings erzählt er seinen Frauen nichts davon, dass das Seniorenzentrum, das er derzeit im 200 Meilen entfernten Nevada baut, in Wirklichkeit der Anbau für das "Pussy Cat Manor" ist, einem veritablen Puff. Dort jedoch passiert ihm auch das Unerwartete: er verliebt sich in die attraktive Huila. Eine unglaubliche Erfahrung für ihn, denn zum ersten Mal in seinem Leben hat er die Wahl getroffen! Zwar kommt es zu prickelnden Begegnungen, allerdings ist Huila ausgerechnet die Liebste seines jähzornigen Auftraggebers, des Bordellbesitzers Ted Leo. Dem das leider auch nicht entgeht.

Was sich aber so linear anhört, hat Brady Udall, der selbst in einer Mormonenfamilie mit acht Geschwistern aufgewachsen ist, in diesem grandiosen tragikomischen Gesellschaftsroman mit raffinierter Dramaturgie und großartigen Charakterzeichnungen zu einem fesselnden Epos geformt. Seine überwältige Erzählkraft schafft deftig-skurrile Szenen voller Situationskomik ebenso wie tief bewegende Passagen, zumal er seine Protagonisten trotz manch makabrer Ereignisse nie der Lächerlichkeit preisgibt.

Doch auch das Gesellschaftsbild macht nachdenklich, denn der Autor ätzt nicht gegen den Mormonen-Glauben, wohl aber spießt er religiöse und moralische Verbohrtheit satirisch auf. Dass dabei en passant offenbar wird, was das Aufwachsen in einer solchen Riesenfamilie bei Kindern anrichten kann, ergibt sich wie von selbst. Ob es ein Happend für den gebeutelten Polygamisten und seine Sippe gibt? Ja, und auch das ergibt sich ganz und gar passend zum übrigen Roman und eine gewisse Maureen spielt dabei eine im Wortsinne auserwählte Rolle.

 

# Brady Udall: Der einsame Polygamist (aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt); 733 Seiten; Goldmann Verlag, München; € 24,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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