TAHMIMA ANAM: "MEIN FREMDER BRUDER"

Mit ihrem hochgelobten Debütroman "Zeit der Verheißungen" beschrieb Tahmima Anam die Zeit des äußerst blutigen bengalischen Unabhängigkeitskrieges von 1971, als sich Ostpakistan von Pakistan befreite und Bangladesh wurde. Die Protagonisten waren darin die unpolitische Rehana sowie ihr 19-jähriger Sohn Sohail und die aufmüpfige 17-jährige Maya.

Dieser bewegenden Familiengeschichte vor historischem Hintergrund lässt die Autoin nun unter dem Titel "Mein fremder Bruder" eine Fortsetzung folgen, die in die 80er Jahre führt, aber durchaus auch als eigenständiger Roman funktioniert. Der beginnt mit Mayas Heimkehr zur kranken Rehana nach sieben Jahren, die sie als Ärztin auf dem Land verbracht hat. Viel hat sich inzwischen verändert, vor allem sind die Träume der Freiheitskämpfer unter dem zum Diktator mutierten Revolutionsführer Mujibur Rahman und seinen Nachfolgern zerstoben.

Auf die gebildete, selbstbewusste Maya wartet daheim eine böse Überraschung, denn ihr geliebter Bruder Sohail hat sich vom engagierten liberalen Revolutionär zum fundamentalistischen Muslim gewandelt. Seine fanatische Frömmigkeit geht soweit, dass er sogar seinem kleinen Sohn den Besuch einer normalen Schule untersagt. Zwischen den Geschwistern führt der Streit darüber zum Zerwürfnis, als Sohail den Jungen schließlich sogar auf eine weit entfernte Koranschule schickt.

In Rückblenden wird jedoch begreiflich, wodurch Sohails Wandlung ausgelöst wurde, denn die Versenkung in eine geradezu blindwütige Frömmigkeit ist die Suche nach einem Halt für den von seinen Kriegserlebnissen traumatisierten Mann. Zugleich befindet er sich mit seiner strenggläubigen Haltung in einer schon in den 80er Jahren zunehmenden Strömung im ganzen Land. Die weltlich orientierte Maya aber kann und will ihren Bruder in diesem Abdriften nicht verstehen.

Als intelligente und unabhängige Frau springen ihr die Ungerechtigkeit und die Ignoranz der patriarchalischen Zustände besonders klar ins Auge. Zugleich stehen diese im krassen Gegensatz zu ihrer Arbeit auf dem Lande. Dort verhalf sie nach dem Kriegsende systematisch unzähligen Frauen zur Abtreibung, die Opfer der Massenvergewaltigungen durch die pakistanischen Soldaten geworden waren. Das geschah auf Geheiß von Revolutionsführer Rahman, der die Geburt all der "Bastarde" unterbinden wollte. Maya aber denkt an ihre ständigen Lügen, wenn sie den armen Frauen versicherte, ihr Leben werde "danach" wieder normal sein.

Das Alles bewegt und man kann kein Happyend erwarten bei solchen Gegensätzen und Desillusionierungen. Gleichwohl fesselt der so authentische Roman mit seinen glaubhaften Figuren und war der Vorgängerroman noch zuweilen fast schwülstig und ausufernd geschrieben, hat Tahmima Anam hier zu einer beinahe nüchternen aber um so eindringlicheren Sprache gefunden und der Duktus ist ebenso reif wie unterschwellig bitter. Fazit: keine leichte Lektüre, aber ein gelungenes Stück Literatur vor hier wenig bekanntem realen Hintergrund.

 

# Tahmima Anam: Mein fremder Bruder (aus dem Englischen von Anna Salmann); 333 Seiten; Insel Verlag, Berlin; € 21,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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