EMMA DONOGHUE: "RAUM"

Raum ist die ganze Welt, die der gerade fünf Jahre alt gewordene Jack kennt. Daneben gibt es zwar noch das Fernsehen, doch was er dort alles sieht, ist ja nicht echt. Das weiß er von Ma, mit der er in dem etwa 14 Quadratmeter großen Gelass lebt.

Was für ihn die Welt ist, bedeutet für die 26-jährige Mutter allerdings seit nunmehr sieben Jahren eine besondere Art von Gefängnis, in dem ihr Entführer sie als seine Sexsklavin hält. Aus dieser Konstellation, die an die echten Fälle der Natascha Kampusch und noch mehr an die vom eigenen Vater gefangene und geschwängerte Elisabeth Fritzl erinnert, hat die irische Erfolgsautorin Emma Donoghue unter dem Titel "Raum" einen einzigartigen Roman gemacht.

Hätte sie einfach nur geschildert, wie "Old Nick" sie kidnapt, in diesen schalldicht und ausbruchsicher hergerichteten Gartenschuppen sperrt und sie regelmäßig missbraucht, es wäre ein hartes, anklagendes Buch über eine schreckliche Zeit geworden. Stattdessen schafft die Autorin eine gänzlich andere, viel differenziertere Perspektive, denn sie lässt Jack erzählen, wie er die Welt sieht und erlebt, die aus nichts als Ma, Raum und Fernseher besteht.

Old Nick, der auch sein Erzeuger ist, hat er nie gesehen, denn wenn der sich mit einem Piep-Ton an der Tür ankündigt, muss Jack in den Schrank klettern zum Schlafen. Natürlich weiß Jack nicht, was der Verbrecher dann mit seiner Ma macht. Um so mehr lässt es schaudern, wenn das Kind die Quietscher des Bettes zählt und weiß, dass der Mann dann nach einem abschließenden Röchler zu gehen pflegt. Im Übrigen hat Jack nichts gegen ihn, schließlich bringt er das Essen und die Sonntagsguttis.

Abgesehen von den ungeliebten Schrankstunden beschreibt der altkluge Junge mit seiner seltsamen aber glaubhaften Sprache seine Lebensumstände als völlig in Ordnung und dafür sorgt Ma. Er genießt die ungeteilte Liebe und Zuwendung seiner Mutter, die die Tage perfekt strukturiert hat. Es sind unglaublich intensive Passagen, in denen Alltägliches unter diesen so außergewöhnlichen Umständen eine ganz andere Bedeutung und Tiefe erlangt. Da wird zum Beispiel der Mond, der durch das kleine Oberlicht als einzigem Ausblick nach draußen scheint, ein Objekt im Weltraum.

Wenn Jack noch immer gestillt wird ("es gab keinen Grund, damit aufzuhören"), ist das lediglich äußerer Ausdruck einer einzigartigen Verbundenheit und Intimität. "Keiner von uns war je allein", stellt Ma dazu später fest. Was zugleich den ungeheuren Zwiespalt zwischen der von Jack als glücklich und harmonisch und vor allem als normal empfundenen Zeit und ihrem jahrelangen Märtyrium schmerzlich vor Augen führt.

Für die hingebungsvolle Mutter ist Jack jedoch auch der einzige Überlebensgrund, nachdem ein erstes von Old Nick gezeugtes Kind bei der Geburt starb. Und diese Aufgaben, ihn Dinge zu lehren, ihn zu versorgen und zu unterhalten, halten sie davon ab, irre an der grausamen Situation zu werden. Bis der Tag kommt, an dem sie dem Sklavenhalter gegenüber offenbar zu heftig aufbegehrt hat, denn er stellt den Beiden tagelang den Strom ab.

In einem abentuerlichen Akt setzt sie tatsächlich die Flucht in gang, wobei sie ein gewaltiges Problem hat: Jack beizubringen, dass es nach allem, was er bisher gelernt hat, außer "Raum" doch auch noch ein Draußen gibt. Die Freiheit, die ganze Welt da draußen, welch ein Kulturschock für den kleinen Kerl. Noch verschlimmert durch das, was unausbleiblich ist: Medienrummel und plötzlich eine Familie. Und Ma bricht unter all dem zusammen, während Jack etwas nie Gekanntes erleiden muss, denn erstmals kommt es zu Zeiten der Trennung.

Das Grandiose an diesem so gänzlich authentisch geratenen Roman ist dabei, dass das gräßliche Geschehen durch diese Schilderung in einer großenteils kindlichen und zugleich überzeugenden Sprache verquere Sichtweisen eröffnet. Harmloses offenbart düstere Details, die Gefangenschaft bedeutet Geborgenheit voller Mutterliebe für Jack. Gekrönt wird dieser mitreißende Drahtseilakt von dem bis zuletzt fesselnden Geflecht aus vermeintlich heiler Welt, unterschwelligem Schrecken und manch überraschender Situationskomik.

Fazit: ein unvergleichliches literarisches Werk, das man wegen der beklemmenden Geschichte aber auch wegen dieser beiden einzigartigen Sypathieträger nicht wieder vergessen wird.

 

# Emma Donoghue: Raum (aus dem Englischen von Armin Gontermann); 410 Seiten; Piper Verlag, München; € 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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