JOHN BURNSIDE: "LÜGEN ÜBER MEINEN VATER"

"Dieses Buch liest man am besten als Fiktion. Wäre mein Vater hier, um mit mir darüber zu reden, gäbe er mir bestimmt recht, wenn ich sagte, es sei ebenso wahr zu behaupten, dass ich nie einen Vater, wie dass er nie einen Sohn hatte." Das stellt der schottische Erfolgsautor John Burnside seinem jüngsten Roman voran.

Der beginnt mit einer Autofahrt in den USA, bei der der Ich-Erzähler einen jungen Anhalter mitnimmt. Dieser erzählt über seine Familie und fragt irgendwann wie selbstverständlich nach der Familie des Fahrers. Der antwortet zwar, doch es sind ausschließlich Lügen. Und so heißt dieser Roman denn auch "Lügen über meinen Vater", denn der ist die alles überlagernde düstere Figur in der gesamten Kindheit und Jugend gewesen - und das nicht nur fiktiv, denn dies Alles ist durch und durch autobiografisch.

Erst vor gut zehn Jahren, als der Autor seinem eigenen Sohn seine Familiengeschichte berichten wollte, fand er die Gründe dafür heraus, warum der Vater "ein sperriges, unhaltbares Etwas war, das niemand haben wollte". Ein Scheusal war er, unberechnebar, gewalttätig, ein brutales Großmaul und zugleich ein schäbiger Trinker mit Anfällen von Zerstörungswut.

Für den Sohn ist er ein dauerhafter Albtraum, der ihn von klein auf bis zur ohnmächtigen Wut drangsaliert und demütigt. Ja, er spricht dem Jungen sogar das Recht ab, überhaupt auf der Welt zu sein - ständig wird stattdessen über die verstorbene ältere Schwester gesprochen und schließlich auch über den nie erschienenen Bruder Andrew. Erst viel später fand er heraus, dass Andrew offenbar gleich nach der Geburt gestorben war.

Übertroffen wird all das jedoch von den ständigen Lügen und Beschönigungen des Alten über seine Herkunft und was er so alles drauf hat. Um so schmählicher stellt sich dann viel später der wahre Hintergrund, das quälende Trauma dieses Besessenen heraus - er ist ein Findelkind: "Ein Niemand von nirgendwo, das kein Mensch gewollt hatte." Auf einer Türschwelle abgelegt und dann von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht.

Mit Lug und Trug, mit Selbstverherrlichungen und häuslicher Despotie versucht dieses menschliche Wrack vergebens, seinen Urschmerz und die seelische Kälte zu übertünchen. Doch so klein und erbärmlich er auch war, für den Sohn ist er quälend überlebensgroß und dem gelingt es erst in der Pubertät, sich gegen den Tyrannen aufzulehnen. Den Selbsthass des Alten aber hat er da längst aufgesogen und bitter wie Galle wird offenbar - manche der schlechten Gene des Vaters sind unentrinnbar auf ihn übergegangen.

"Wenn der Sohn in den Spiegel schaut, blickt ihm der eigene Vater entgegen" und dieser Sohn zieht sich noch am Sterbetag der vergrämten Mutter mit Pink Floyd-Musik, einer Flasche Wodka und den restlichen Betäubungsmitteln der Krebskranken zurück. Und verschwindet, als er aus dem komatösen Wegdämmern wieder erwacht, in eine Odyssee mit Alkohol und Drogen, wovon das letzte Drittel dieses in alttestamentarischer Wucht verfassten packenden Romans mit ätzender Präzision berichtet.

Was wunder, dass der Sohn den schließlich in einer Kneipe am Herzinfarkt dahingerafften Vater mit einer gewissen Dankbarkeit begraben hat, nachdem er ihm den Tod so lange schon gewünscht hatte. Um so erstaunlicher ist, wie sich der Ich-Erzähler selbst zu retten und eine beachtliche Karriere aufzubauen vermochte. Nach dem langen Vergraben all dieser Erinnerungen jedoch - bis zu eben jenen Erkenntnissen über die düsteren Hintergründe des Vaters - gelingt dem Autor tatsächlich so etwas wie Vergebung. Das Wissen aber bleibt wie auch diese Sehnsucht nach einem wahrhaftigeren Vater.

Fazit: ein Roman voller menschlicher Abgründe, großartig geschrieben und ebenso großartig ins Deutsche übertragen, aber nur zu ertragen, weil der sprachgewaltige Autor kein bisschen larmoyant oder sentimental wird.

 

# John Burnside: Lügen über meinen Vater (aus dem Englischen von Bernhard Robben); 382 Seiten; Knaus Verlag, München; € 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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