JULIE ORRINGER: "DIE UNSICHTBARE BRÜCKE"

Andras Levi ist 22 Jahre alt und will Architektur studieren, doch wie sein älterer Bruder Tibor, der Mediziner werden will, verhindern die Quoten für jüdische Studenten in Ungarn ein Studium in der Heimat. Man schreibt das Jahr 1937 und in Europa zeigt der Antisemitismus immer unübersehbarer seine bedrohliche Fratze.

Während Tibor nach Italien geht, gelingt Andras die Aufnahme an der Pariser l'École Speciale d'Architecture. Das ist der Einstieg in Julie Orringers großes Epos "Die unsichtbare Brücke", das sich dem bisher wenig thematisierten Schicksal der ungarischen Juden widmet. Zunächst aber genießt der junge idealistische und auch etwas naive Student die lebendige Metropole mit ihrem reichen kulturellen Leben und er findet enge Freunde wie den Landsmann Joszeph und den aus Polen stammenden Polaner.

Viel wichtiger aber wird seine Begegnung mit der anziehenden Klara Morgenstern, einer neun Jahre älteren Ballettlehrerin. Sie hat eine 16jährige Tochter und einige dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit. Eher langsam und ausführlich bis hin zu den sehr genau recherchierten Details jener Zeitumstände entwickelt die US-Autorin die tiefgehende Liebesgeschichte der Beiden. Doch die Geduld des Lesers wird reich belohnt und nichts von dieser feinen Prosa in ihrem sehr europäischen Flair ist verzichtbar für den Fortgang des Epos.

Die Wolken über dem Kontinent werden unaufhaltsam dunkler und auch in Paris sind immer mehr antisemitische Anfeindungen zu spüren. Und dann wird Andras' Studentenvisum aufgehoben und er muss heim. Doch auch in Budapest dauert es nur bis zum Kriegsausbruch im September 1939 und er wird umgehend zum ungarischen Arbeitsdienst eingezogen. Mögen die harte Arbeit und die erniedrigende Behandlung auch ein Schock für den Feingeist sein, so sind Andras und die anderen Juden im faschistischen Ungarn vergleichsweise gut dran im Vergleich zu denen, die im Herrschaftsbereich der Nazis dem Holocaust entgegengehen.

Doch der Himmel verfinstert sich auch hier nach harten Zeiten endgültig, als die Horthy-Regierung kapituliert und mit den Pfeilkreuzlern 1944 Nazi-Regime und Judenvernichtung nun auch über die hunderttausende ungarischer Juden hereinbrechen. Andras und Freund Joszeph durchleiden das ganze Elend von Verfolgung und KZ, aber auch die Befreiung durch die Sowjettruppen und den Hungermarsch heim ins zerbombte Budapest.

All die Schicksale von Tibor, von Joszeph, vom zweiten Bruder Matyas und die Jahre der Drangsal, die Klara und ihre Kinder durchgemacht haben - sie sind ebenso beklemmend wie beispielhaft. Die Autorin hat dabei gleichwohl weder die Pariser Jahre zum romantischen Melodram gemacht noch die düsteren Zeiten der Unmenschlichkeit in Hoffnungslosigkeit ertränkt. Da erinnert manches an den geschichtlichen Bogen, wie ihn "Dr. Schiwago" einst am Beispiel einer Familie und einer komplizierten Liebesbeziehung geschlagen hat. Mit einem gewichtigen Unterschied: Julie Orringers bewegendes Epos beruht in Grundzügen auf der Lebensgeschichte ihres Großvaters.

Ohnehin besticht der Roman durch seine realistischen und sehr lebensnahen Schilderungen. Die virtuos gezeichneten Charaktere nehmen dabei derartig ein, dass man dieses Meisterwerk nicht mehr aus der Hand legen mag, wenn man sich erst einmal eingelesen hat. Fazit: eine fast altmodisch erzählte Geschichte vor historischem Hintergrund und zugleich ein großartiges Stück zeitloser moderner Literatur.

 

# Julie Orringer: Die unsichtbare Brücke (aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer); 821 Seiten; Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln;

€ 24,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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