INGE BARTH-GRÖZINGER: "STACHELBEERJAHRE"

„Das passte genau auf sie! Sie war auch eine Pechmarie, eine Pechmarianne." Das Kind, das so über sich denkt ist Marianne, die eigentliche Heldin in Inge Barth–Grözingers neuem Roman „Stachelbeerjahre". Das Mädchen lebt Anfang der fünfziger Jahre in einer Familienkonstellation, die ihr allen Grund gibt, sich als Pechmarianne zu fühlen.

Ihre Mutter, die sie von ganzem Herzen liebt, lebt mit Marianne und deren älterer Schwester Sieglinde bei den Eltern ihres im Krieg gefallenen Mannes. Dessen Mutter, die Alte, wie sie von allen insgeheim genannt wird, tut alles, um ihnen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Sie hat den Tod ihres Sohnes nicht verwunden und duldet die Schwiegertochter nur, weil sie ihre Enkelin in ihrer Nähe behalten will.

Marianne ist für ihre vermeintliche Großmutter nur „der Kuckuck". Auch wenn Marianne nicht weiß, was das bedeutet, spürt sie doch, dass sie anders ist als ihre Schwester Sieglinde. Erst als sie für die Schule einen kleinen Stammbaum ihrer Familie erstellen soll, erfährt sie, dass ihr vermeintlicher Vater schon zwei Jahre vor ihrer Geburt gefallen ist und sie das Kind eines französischen Besatzungssoldaten ist. Schlagartig wird ihr klar, was ein „Kuckuck" ist und warum „die Alte" sie so sehr zurücksetzt. Glücklicherweise hat sie noch ihren Großvater Gottfried, der sie wirklich um ihrer selbst willen gern hat und ihr heimlicher Verbündeter wird.

In dieser Welt des unmittelbaren Nachkriegsdeutschland im kleinen Dorf Grunbach – ältere Leser werden sich gut an diese Zeit erinnern – mit all ihren durch den Krieg aufgezwungenen Verhältnissen wächst sie auf und muss sich behaupten. Anders als ihre ältere Schwester, deren Träume kaum weiter reichen, als zu heiraten und Hausfrau zu sein, spürt Marianne früh, dass sie für sich nur durch Bildung die Möglichkeit schaffen kann, diesen engen und bedrückenden Verhältnissen zu entwachsen.

Die gesamte Widersprüchlichkeit dieser Zeit wird in Mariannes Kindheit deutlich. Auf der einen Seite die Folgen des Zweiten Weltkriegs, das Schweigen über die Zeit des Nationalsozialismus und eine nach außen zur Schau getragene Wohlanständigkeit, die in keiner Weise dem inneren Zustand der Gesellschaft entspricht. Der Kalte Krieg und die atomare Bedrohung tun ein Übriges.

Auf der anderen Seite steht das beginnende "Wirtschaftswunder", ein Anflug von neuem Selbstbewusstsein mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954, erste Fernsehgeräte in den Geschäften und andere Anzeichen für zumindest wirtschaftlich sich bessernde Zeiten. Marianne erkämpft sich das Recht, zum Gymnasium gehen zu dürfen, in dem kleinen Dorf Grunbach eigentlich undenkbar, und erschließt sich damit eine Welt, die für sie zum kostbarsten wird, was es in ihrem Leben gibt.

Bis hierher ist die Geschichte der kleinen Marianne, ihrer Familie und ihres Dorfes eine lesenswerte Beschreibung der Jahre nach dem Krieg, Erinnerung für ältere Leser, eine Zeitreise in die Jugend ihrer Elern oder Großeltern für jüngere. Jedoch, warum, um Himmels willen, muss die Autorin im letzten Viertel des Romans den Fokus noch einmal auf eine völlig neue Hauptfigur legen? Geht es ihr darum, die Ankunft der ersten „Gastarbeiter" in Deutschalnd nicht zu unterschlagen oder traut sie ihrer eigenen Erzählkunst nicht und versucht, die Geschichte durch ein dramatisches Ende aufzuwerten?

Mit dem italienischen „Gastarbeiter" Enzo, der Anfang der sechziger Jahre bei ihnen einzieht, nimmt die Geschichte völlig unerwartet eine dramatische Wende. Der zwielichtige Italiener verführt zunächst die Mutter, dann die Tochter und alles endet mit einem Mord. Im Vergleich zum vorherigen Teil der Geschichte wirkt dieses Ende blass und eher künstlich angehängt.

Da kann auch durch die vorher eingeschobenen Zeit- sprünge, die auf das Ende und diesen Enzo verweisen, kein innerer Zusammenhang zur bisherigen Geschichte hergestellt werden. Als Beschreibung des Lebensgefühls der fünfziger Jahre mit all seinen Widersprüchen und Verlogenheiten hat der Roman durchaus seinen Reiz. Trotz seiner erst heranwachsenden Hauptfigur eignet er sich alleridngs weniger als Jugendroman, ein Ende mit einem Mord aber braucht die Geschichte auch sonst definitiv nicht.

 

 

# Inge Barth–Grözinger: Stachelbeerjahre, 352 Seiten; Thienemann Verlag, Stuttgart;

€ 16,90

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