JOYCE CAROL OATES: „GEHEIMNISSE"

Für meine Großmutter Blanche Morgenstern, die Tochter des Totengräbers" lautet die Widmung, die Joyce Carol Oates ihrem neuen Roman vorangestellt hat. Und wenn der deutsche Titel „Geheimnisse" lautet, hat das seine Berechtigung, denn diese Geschichte ist zwar fiktiv, dennoch beruht sie auf wahren Begebenheiten, die die Autorin erst durch die Nachforschungen ihres Biografen herausfand.

Wie die echte Tochter des Totengräbers hat sich auch ihr Roman-Pendant Rebecca Schwart selbst neu erfunden und eine Rolle gespielt, von der niemand etwas wusste. In packender Weise führt die für ihre intensive Erzählweise gerühmte Autorin in die trostlose Kindheit des Mädchens, das in einem primitiven Haus am Rande des Kleinstadtfriedhofs im Staat New York lebt. Hierher hat es die jüdischen Eltern verschlagen, nachdem sie 1936 vor den Nazis aus Deutschland geflohen waren.

Der Vater, einst Mathematiklehrer in Kaufbeuren, leidet an dem Niedergang zum Totengräber und ertränkt Wut und Paranoia im Suff. Nur Rebecca, auf dem Flüchtlingsschiff im New Yorker Hafen geboren, habe eine Chance, sagt er. Ehefrau Anna dagegen verliert zusehends den Verstand über dem Elend und eines Tages bringt Jacob Schwart erst sie um und erschießt sich dann vor den Augen der 13-jährigen Tochter. Die er beinahe mit in den Tod genommen hätte. So überlebt sie zwar, die Bilder des Dramas aber bleiben unauslöschlich.

Sie kommt in die Familie ihrer Lehrerin, flieht jedoch mit 17 mit Tignor, einem harschen, an den Vater erinnernden, deutlich älteren Mann. Das Gefühl der Geborgenheit bei ihm bekommt sehr bald Risse und auch die Geburt ihres Sohnes bedeutet kein wirkliches Glück. Zumal sich Tignor als jähzornig erweist und offenbar auch kriminell ist. So kommt es drei Jahre später zu einer wahren Metamorphose, wenn die schwarzhaarige scheue Rebecca nicht nur mit ihrem Sohn vor ihrem Ehemann flieht – sie wechselt in eine völlig andere Person.

Als sei es ein Zeichen gewesen, dass ein Fremder sie als Hazel Jones anspricht, schlüpft sie in genau diese Rolle: eine adrette, strahlende, echt amerikanische Doris-Day-Figur mit bezauberndem Lächeln. Mit eiserner Disziplin wächst sie derartig in das neue Leben hinein, dass ihr sogar eine neue Liebe beschieden ist. Dieser Chet stammt aus gutem Hause und ist ganz und gar das Gegenteil von Tignor. Obendrein adoptiert er sogar Rebecca/Hazels musikalisch hochbegabten Sohn.

Nur als Meisterin der Verstellung gelingt ihr ein Stück Lebensglück, dennoch bleiben die Angst vor Verlust und die innere Einsamkeit in diesem tagtäglichen Überlebensspiel. Und dieses Epos, das nie nachlässt in seiner fesselnden Intensität, mündet in ein ungewöhnliches Finale. Niemals erfährt ihre amerikanische Familie über die Jahrzehnte etwas von den Geheimnisse der Tochter des Totengräbers – sie offenbart sich nur in einem bewegenden verbissen geführten Briefwechsel voller Zuneigung und Ablehnung mit der spät entdeckten Cousine, die einst wie sie ins Land gespült wurde.

Diese Geschichte mit ihren grandios gezeichneten Charakteren voller Brüche und Abgründe wird durch die hochsensible Erzählkunst und nicht zuletzt dieses Schlusskapitel zu einem Meisterwerk, das man kaum wieder vergessen wird. Fazit: keine leichte Kost, aber ein großartiges Stück Literatur.

 

# Joyce Carol Oates: Geheimnisse (aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz); 671 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 24,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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