ZOE FERRARIS: „TOTENVERSE"

Eine Frau liegt am Strand von Dschidda in Saudi Arabien, halb entkleidet, grausam entstellt. Ihre Identität kann wegen der Verletzungen nicht festgestellt werden. Zoe Ferraris’ Kriminalroman „Totenverse" beginnt mit einem kräftigen Paukenschlag. Nachdem es zunächst so aussieht, als handele es sich um einen der häufigen Morde an einer lästig gewordenen Hausangestellten, wird klar, dass hier eine Frau den Tod gefunden hat, die in einer von Abaya, Hijab und Neqab (Übergewand, Kopftuch und Schleier) bestimmten Gesellschaft ein ganz außergewöhnliches Leben geführt hat.

Geschickt und atmosphärisch dicht beschreibt Ferraris parallel zu den Ermittlungen am Beispiel dreier Frauengestalten das Leben und die Rolle der Frau in einer muslimisch geprägten Gesellschaft. Was sie selbst als Frau eines Saudis in einer konservativen Familie in Dschidda erlebt hat, verarbeitet sie zu der spannenden Handlung des Krimis.

Da ist die ‚Heldin’ des Romans, die Pathologin Katya, die stolz darauf ist, beruflich erfolgreich zu sein und an den Ermittlungen beteiligt zu werden. Allerdings musste sie, um in diese Position zu kommen, ihrem Vorgesetzten vorlügen, sie sei verheiratet. Zusammen mit dem Wüstenführer Nayir findet sie heraus, wer die mysteriöse Tote war. Zwischen den Beiden entwickelt sich eine vorsichtige Liebesgeschichte, die aber von den gesellschaftlichen Konventionen kaum zugelassen wird.

Wie es einer Frau aus der westlichen Welt in einem vom Islam geprägten Land geht, wird deutlich an der Amerikanerin Miriam, deren Mann in Saudi Arabien arbeitet. Kurz nach ihrer Ankunft in Dschidda verschwindet er auf mysteriöse Weise und sie muss ohne ihn in einer Gesellschaft zurechtkommen, in der eine Frau ohne Mann sich eigentlich nirgendwo bewegen kann. Was sie und ihr Mann mit dem Fall zu tun haben, bleibt zunächst im Dunkeln.

Eine äußerst ungewöhnliche Erscheinung ist das Opfer Leila. Sie ist eine junge Frau, für die die strengen gesellschaftlichen Konventionen scheinbar keine Geltung hatten. Sie arbeitete wie besessen an einem Dokumentarfilmprojekt, bewegte sich dabei ohne Begleitung mit einer Kamera durch die Stadt und filmte, was immer ihr interessant erschien. Bezeichnend für Leilas bewusstes Missachten der üblichen Regeln ist ein kleines Detail, das es möglich machte, ihre Identität zu klären. Sie hatte mit ihrem Mobiltelefon per ‚Bluetooth’ ein Foto von sich selbst – verschleiert und unverschleiert – an ihre unmittelbare Umgebung versandt. Unfassbar eigentlich in einer Gesellschaft, in der eine Frau eigentlich nicht einmal allein auf die Straße gehen darf.

Ist Leila ermordet worden, weil sie bei ihrem Filmprojekt Dinge herausgefunden hat, die ihr gefährlich geworden sind? Welche Rolle spielt ihr Bruder, der ein Dessousgeschäft (!)in Dschidda betreibt? Hat der zwielichtige Koranforscher Apollo Mabus, in dessen Besitz alte Korantexte sind, die von der offiziellen Version abweichen, mit ihrem Tod zu tun?

Neben der spannungsreichen Kriminalgeschichte baut Ferraris mit der Beschreibung dieser drei Frauen einen weiteren, mindestens ebenso interessanten und tragfähigen Spannungsbogen auf. Wie lebt es sich mit ‚Abaya’, ’Hijab’ und ‚Neqab’ in einer islamischen Gesellschaft? Was sie während ihrer Ehe in Saudi Arabien selbst erlebt und was sie für das Buch recherchiert hat, baut die Autorin am Beispiel der drei Frauen geschickt in die Geschichte ein und ermöglicht so dem westlichen Leser, einen unmittelbaren Eindruck zu gewinnen, wie sehr in dieser Gesellschaft das Leben der Frauen - aber auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander - von der Frage geprägt ist, was schicklich und was unschicklich ist. Und diese Schilderungen machen das Buch über den Kriminalfall hinaus zu einer sehr lesenswerten Geschichte, die den eigenen Horizont um Erfahrungen bereichert, zu denen man sonst gar keinen Zugang hat.

 

# Zoe Ferraris: „Totenverse" Kriminalroman (aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann) 430 Seiten; Pendo Verlag,. München; € 18,95

ATTO IDE

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