J. M. COETZEE: „SOMMER DES LEBENS"

Der erfolgreiche Schriftsteller John Coetzee ist verstorben und ein gewisser Mister Vincent macht sich daran, eine Biographie über ihn zu schreiben. Aber kann das denn sein, wo doch John Maxwell Coetzee gerade im Februar seinen 70. Geburtstag gefeiert hat? Tatsächlich lebt der echte J.M. noch, Mr. Vincent dagegen ist ebenso eine fiktive Gestalt wie auch der autobiografische Gehalt der vermeintlichen Biographie einer genaueren Untersuchung bedarf.

Sommer des Lebens" lautet der Titel und er bezieht sich auf die frühe Blütezeit des Autors, der auch in der Realität in den 70er Jahren als Hochschullehrer aus den USA in seine südafrikanische Heimat zurückkehrt. Hatte Coetzee in seinen beiden autobiografischen Romanen „Der Junge" (1998) und „Die jungen Jahre" (2002) seine Kindheit und Jugend noch fiktiv in der dritten Person von sich erzählt, zieht er sich diesmal ganz aus dem Buch zurück. Der literarische Taschenspielertrick gerät dank der Sprachmagie des realen Coetzee zu einem solch überzeugenden Geniestreich, dass das Buch auf die Shortlist für den Man Booker-Prize für 2009 gelangte.

Dabei verstört dieser gnadenlose Blick der Zeitzeugen auf den Autor, denn kein Urteil ist auch nur halbwegs freundlich. Fünf davon interviewt Mr. Vincent, der dem Autor selbst nie begegnet ist, darunter neben dem Ex-Kollegen Martin vier Frauen. Gleich der Einstieg mit Dr. Julia Frankl ist herb enttäuschend, denn die hatte einst eine kurze leidenschaftsarme Affäre mit diesem so unfertigen Mann, die lediglich insofern Nutzen brachte, dass es ihre Ehe wieder beflügelte. Coetzees Lieblingscousine Margot zeichnet ebenfalls das Bild eines hölzernen Langweilers ohne jede Ausstrahlung. Aber auch die Kollegin Sophie lässt an den Qualitäten als Autor derartig zweifeln, dass sein Erfolg schlichtweg unverständlich erscheinen muss.

Gänzlich zum unbarmherzigen K.o.-Schlag jedoch wird die Befragung der brasilianischen Ex-Tänzerin Adriana. Sie traf Coetzee an der Uni, fand ihn gänzlich unmännlich und fällt ohne Kenntnis auch nur eines seiner Bücher das Urteil, dass er kein großer Schriftsteller gewesen sein könne, weil er als Person einfach „ein unbedeutender kleiner Mann" war. Schließlich mündet das Alles in ein Finale, in dem der kontaktscheue Junggeselle mit seinem krebskranken Vater in einem baufälligen Haus in der Nähe Kapstadts lebt.

Und spätestens hier muss auffallen, wie weit das echte Leben und diese fiktionalisierte Biographie auseinanderklaffen, denn bereits mit 23 Jahren heiratete J.M. Und hatte mit Ehefrau Philippa zwei Kinder. Warum also diese geradezu narzisstisch wirkende Selbstverleugnung des zweifachen Booker-Preisträgers und Nobel-Laureaten von 2003, in der er sich scheinbar regelrecht fertigmacht? Auf virtuose Weise führt der echte Coetzee mit diesem vertrackten Werk vor Augen, welch gefährlicher Reiz jeglicher Autobiographie innerwohnt, denn – welcher Verfasser schreibt exakter und ehrlicher über sich selbst, sein Leben und Wirken, als es Zeitzeugen tun. Sie haben ihn aus ihrer Perspektive wahrgenommen, manche Erinnerung ist längst getrübt und vielleicht wird die Beflissenheit zur wahren Aussage durch Abneigung oder Desinteresse beeinflusst.

Hier sind es nun sogar fünf verschiedene „Zeugen" mit ihren Teilaspekten eines ganzen Lebens und einer Person, die ihnen nie wirklich nahe war. Selbstironisch bis zur Gnadenlosigkeit und zugleich quasi als Fremder geht der große Meister der lakonischen Poesie mit einer Nüchternheit und Intensität also an die Entlarvung autobiografischer Wahrheitsliebe. Nein, J.M. Coetzee hat mit „Sommer des Lebens" keine Autobiographie geschrieben, vielmehr treibt er ein brillantes Spiel mit dem Genre und das bereitet ein überaus spannendes und geistreiches Lesevergnügen.

 

# J. M. Coetzee: Sommer des Lebens (aus dem Englischen von Reinhild Böhnke); 297 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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