Manil Suri: „Shiva"

„Ashvin. Deine Augen sind noch immer geschlossen. Tropfen befeuchten deine Nase. Weißt du, wie unschuldig du aussiehst, wie hilflos, wenn ich die Brustwarze an deinen Mund führe? Einen Augenblick lang möchte ich dich zum Besten halten. Dir mit der Brustwarze über die Lippen streichen, sie nur damit berühren und sie wieder wegziehen."

Schon mit dem ersten Kapitel seines Romans „Shiva" zieht Manil Suri den Leser mit der Beschreibung dieser sehr intimen Situation zwischen Meera und ihrem Sohn Ashvin mitten in das Leben seiner Protagonistin.

Meera wächst im Indien der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts als zweite Tochter einer wohlhabenden und durchaus liberalen Verlegerfamilie auf. Obwohl oder vielleicht auch weil ihr Vater sich bemüht, seine Töchter fern von religiösen und gesellschaftlichen Konventionen freiheitlich zu erziehen, fühlt sie sich von ihm gegängelt und gegenüber der älteren Schwester Roopa zurückgesetzt.

In einer Mischung aus Naivität und Protest gegen die Familie bringt sie sich sehr jung in die Situation, den mäßig begabten Sänger Dev heiraten zu müssen. Sie zieht zur Familie ihres Mannes, die, was Wohlstand und Bildung angeht, weit unter ihrer eigenen steht. Tapfer erträgt sie die bescheidenen Verhältnisse und die Erfolglosigkeit ihres Mannes, wird schwanger und muss das Kind abtreiben.

Als sie ihrem Vater zusagt, das gewünschte Studium zu beginnen, finanziert der den Umzug von Delhi nach Bombay. Dev verspricht sich dort den Anfang seiner Karriere, bleibt aber auch hier ohne Erfolg und schlägt sich mit einem Job in einem Tonstudio durch. Seine anhaltende Erfolglosigkeit lässt ihn mehr und mehr zu einem trinkenden Macho werden, der die anfängliche Liebe seiner Frau längst verspielt hat.

Meera absolviert ihr Studium ohne allzu große Begeisterung. Als sie erneut schwanger wird, findet sie mit diesem Sohn den wahren Inhalt ihres Lebens. Eifersüchtig achtet sie darauf, dass nicht einmal Dev ihrem ihrem kleinen Ashvin näher steht als sie. Als Dev dann bei einem kriegerischen Zwischenfall ums Leben kommt, richtet sie ihr gesamtes Leben auf die Bedürfnisse ihres Sohns Ashvin aus, mit sehr weitreichenden Konsequenzen. Ähnlich dem Mythos von Shiva und dessen Frau Parvati, die sich selbst einen Sohn schuf, weil sie von Shiva zu oft allein gelassen wurde, schafft sich auch Meera ein Kind nach ihren Wünschen.

Neben der Geschichte Meeras zeichnet Manil Suri ein facettenreiches Bild der indischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts. Die Unabhängigkeit des Subkontinents ist noch jung. Die Abspaltung Pakistans führt zu tiefen Verwerfungen auch innerhalb der indischen Gesellschaft. Der Konflikt zwischen Muslimen und Hindus ist allgegenwärtig. Ebenso prallen Tradition und beginnende Moderne exemplarisch in den beiden Familien unmittelbar aufeinander.

Ausgesprochen mutig bis gewagt ist die Erzählperspektive des Autors Manil Suri. Der Professor für Mathematik erzählt die Geschichte aus der Perspetive der Ehefrau und Mutter Meera, im zweiten Teil des Romans sogar so, als würde Meera das Alles direkt ihrem Sohn erzählen. Ob das in sämtlichen Details gelingt und Suri die Gefühlswelt einer Frau und Mutter überzeugend darstellen kann, mögen insbesondere die Leserinnen dieses ebenso spannenden wie immer wieder überraschenden Romans abschließend beurteilen.

 

 

# Manil Suri: Shiva (aus dem Amerikanischen von Anette Grube); 495 Seiten, Luchterhand Literaturverlag, München, € 24,95

ATTO IDE

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 676 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de