JEREMY PAGE: „TAGEBUCH EINES UNGELEBTEN LEBENS"

Eine zutiefst melancholische Geschichte erzählt der englische Autor Jeremy Page in seinem neuen Roman „Tagebuch eines ungelebten Lebens". Nachdem seine Familie vor fünf Jahren durch eine dieser seltsamen und dennoch glaubhaften Zufallskatastrophen zerbrach, lebt Guy auf einem kleinen uralten Küstenfrachter in der Abgeschiedenheit der Küste Norfolks.

Jeden Abend, wenn er die Maschinen abgestellt hat und das Boot treiben lässt, flüchtet er in die Traumwelt seines Tagebuchs, in dem er seine sehr eigenen Vorstellungen darüber niederschreibt, wie sein Leben mit der jetzt bald zehnjährigen Freya und Ehefrau Judy weitergegangen wäre. In dieser anderen Welt reist er mit seinen beiden Liebsten durch die USA. Er will Judy nach Nashville bringen, wo sie als Backgroundsängerin in die Studios gehen will.

Doch jeden Morgen erwacht er wieder zu der so harmlos idyllisch beginnenden Eröffnungsszene des Romans, in der ein durchgedrehter Hengst die Familie auf einer Weide angreift, wobei die Tochter umkommt. Je weiter Guy nun in das Parallelleben hineintreibt, desto deutlicher wird auch, wie eng sein Verhältnis zu der unvergänglich perfekten Unschuld des Kindes ist, während die Rolle der ohnehin recht narzisstischen Judy, die ihn damals verließ, immer unbedeutender wird.

Das Alles entwickelt sich ebenso langsam wie tiefgründig. Bis Guy unversehens aus diesem weltabgeschiedenen Wechsel von Einsamkeit und Tagebuchwelt gerissen wird, als ein Boot in der Nähe vor Anker geht, an Bord die zehn Jahre ältere Marta und ihre Tochter Rhona. Beide üben bald schon eine verwirrende Anziehungskraft auf Guy aus. Marta hat ebenfalls einen schweren Schicksalsschlag hinter sich, vermittelt Guy jedoch ein Gefühl der Geborgenheit. Als sich so das reale Leben wieder für ihn zu öffnen scheint, entgleitet ihm zugleich die geliebte Welt seines Tagebuchs.

Und schließlich gibt es ein neues Tagebuch mit einer neuen Geschichte – mehr allerdings sei hier nicht verraten, um die stete subtile Spannung dieses ungewöhnlichen Romans nicht zu zerstören. Dessen feine bildhafte Sprache wie auch die hingebungsvollen Schilderungen der Natur machen dieses Werk zu einem Lesegenuss, der auf dezente Weise unter die Haut geht.

 

# Jeremy Page: Tagebuch eines ungelebten Lebens (aus dem Englischen von Andreas Gressmann); 410 Seiten; marebuchverlag, Hamburg; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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