JULIE KAVANAGH: „NUREJEW. DIE BIOGRAFIE"

Er revolutionierte das Ballett und war dessen erster Superstar, er war genial, charmant und zuweilen ein entsetzlicher Widerling, kurzum in jeder Beziehung eine Ausnahmeerscheinung des 20. Jahrhunderts: Rudolf Nurejew (1938-1993). Um sein Leben von den bitterarmen Kinderjahren über den rasanten Aufstieg in der Sowjetunion bis hin zur Weltkarriere und dem frühen Ende bis ins Detail schildern zu können, recherchierte die britische Journalistin Julie Kavanagh zehn Jahre.

Herausgekommen ist mit „Nurejew. Die Biografie" ein grandioser Lebensbericht des faszinierenden Künstlers, der ebenso großartig wie faunhaft sein konnte. Die Autorin absolvierte einst selbst die Royal Ballet School in London und bei ihren Recherchen hat sie nicht nur Interviews mit Freunden und Weggefährten geführt, sie konnte auch neue Quellen bis hin zur KGB-Akte Nurejews erschließen. Hinzu kam die Auswertung einer Fülle von Memoiren, Briefen und Tagebüchern. Gerade diese neuen Quellen warfen ein teils erheblich anderes Licht zum Beispiel auf seine Jahre in Leningrad am Kirov-Ballett und auf sein frühes Liebesleben, das mit der heimlichen Affäre mit einem ostdeutschen Studenten einsetzte.

Sehr direkt dokumentiert die Autorin auch Nurejews häufiges schlechtes Benehmen, das später legendär wurde, wenn er unliebsame Kolleginnen im Training fallen ließ oder gegen Kollegen handgreiflich wurde. Der Leidenschaft für das Tanzen stand eine Maßlosigkeit gegenüber, die staunen lässt. So ist belegt, dass Nurejew im Haus des gefeierten Tanzlehrers Alexander Puschkin aufgenommen wurde, wo er dann mit dessen Frau Xenia, einer Tänzerin, anbandelte. Allerdings soll es gleichfalls Intimitäten mit dem Gönner geg eben haben.

Doch Nurejew hatte ja zwei Leben, denn der kometenhaft aufgestiegene, aber recht ungebärdige Tänzer ahnte, dass die Sowjet-Obrigkeit seinen Auslandsauftritten ein Ende bereiten wollte. Dennoch war es offenbar eine eher spontane Aktion, als er am 16. Juni 1961 auf dem Pariser Flughafen jenen legendären „Sprung in die Freiheit" unternahm. Für den er daheim in Abwesenheit nicht nur zu einer Haftstrafe verurteilt wurde: in den KGB-Akten finden sich sogar Überlegungen, wie man seine professionellen Fähigkeiten zum Beispiel durch „Beinebrechen" beschränken könnte.

Es ist schlichtweg spannend zu lesen, welch abenteuerliche Karriere der bei der Flucht gerade 23-Jährige dann mit Auftritten in den größten Häusern machte. Nun arbeitete er mit den berühmtesten Choreographen und Ensembles seiner Zeit zusammen. Julie Kavanagh schildert die große Zeit des Traumpaars Nurejew/Fonteyn und lässt wenig Zweifel daran, dass die 19 Jahre ältere Ausnahme-Ballerina Margot Fonteyn und der schöne Abkömmling einer Tartarenfamilie nicht nur beruflich ein sehr inniges Verhältnis zueinander hatten. Noch eindeutiger aber war Nurejews Vorliebe für Männer und man erfährt ungewöhnlich Intimes insbesondere aus seinem sehr emotionalen Schriftverkehr mit seiner lebenslangen großen Liebe, dem dänischen Ballett-Star Erik Bruhn.

Während die Biografin einerseits die unersättliche sexuelle Gier des seit den frühen 80er Jahre HIV-infizierten Weltstars mit vielen oft sehr bekannten Namen in Zusammenhang bringt, stellt sie andererseits seine Ausnahmerolle dar: er war zwar nicht der technisch Beste aller Tänzer, doch seine Auftritte hatten etwas Göttliches an sich, eine herausragende Strahlkraft, die weltweit das Publikum in die Theater lockte. Dem stellt Kavanagh die düstere, wölfische Seite seiner Seele entgegen, um bei aller schonungslosen Offenheit zugleich um Mitgefühl und Verehrung für diesen in sich einsamen und zerrissenen Menschen zu heischen.

So sind es schließlich bewegende Passagen, wenn sie sein Ende beschreibt, und sie hinterlässt das facettenreiche Bildnis eines Mannes von hoher Grazie und Anziehungskraft, einer verletzlichen Seele und durchsetzt von monströsen Schattenseiten. Fazit: dies dürfte die ultimative Biografie zu Rudolf Nurejew sein und damit verbunden eine faszinierende Reise durch die Ballettgeschichte des 20. Jahrhunderts, die ohne ihn ohne ihren größten und leuchtendsten Stern geblieben wäre.

 

# Julie Kavanagh: Nurejew. Die Biografie (aus dem Englischen von Henning Thies); 991 Seiten, div. SW-Abb.; Propyläen Verlag, Berlin; € 29,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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