DAVE EGGERS: „WEIT GEGANGEN"

Es beginnt so niederträchtig banal mit einem fast alltäglichen Überfall in der kleinen Studentenwohnung in Atlanta, wie es in den USA durchaus an der Tagesordnung ist. Für Valentino Achak Deng aber ist es eine perfide Gewalterfahrung nach all dem Elend, das er seit den Kindheitstagen im Süd-Sudan durchgemacht hat. Und die Stunden, die er hilflos in seinem Blut liegt, aber auch der ganz normale Irrsinn, der mit Polizeiuntersuchung und Krankenhausversorgung folgt, bilden das Gerüst für ein in dieser Form einzigartiges Flüchtlingsepos von überwältigender Eindringlichkeit.

US-Erfolgsautor Dave Eggers begegnete dem echten Valentino über eine Hilfsorganisation für sudanesische Flüchtlinge und war gebannt von dem, was ihm der Student in vielen Sitzungen erzählte. Wenn der daraus entstandene Roman „Weit gegangen" überschrieben ist und der Untertitel „Das Leben des Valentino Achak Deng" lautet, erwartet den Leser ein bewegendes Schicksal, das der Autor mit faszinierender Sprachgewalt zu einer subjektiv erzählten Geschichte geformt hat, die keine Biografie aber ganz nah an dem real Erlebten ist.

Valentino ist sieben, als der zweite sudanesische Bürgerkrieg (1983-2005 und nicht zu verwechseln mit dem aktuellen in Dafur) sein Dorf erreicht, viele Menschen umkommen und er von seiner Familie getrennt wird. Der Marsch tausender sogenannter Lost Boys zu den weit entfernten Flüchtlingslagern in Äthiopien entwickelt sich zum Elendszug. Sie werden von Löwen gefressen, von verschiedenen Milizen drangsaliert und verscheucht, sterben vor Durst und Hunger oder an Infektionen oder in verminten Feldern. Entbehrungen und Erniedrigung machen es geradezu unglaublich, dass sich dennoch Tausende in die vermeintliche Sicherheit schleppen können.

Die jedoch auch nur Elend bietet, wo der einsame, hungerdürre Ich-Erzähler als Totengräber dient, nachdem er selbst gerade überlebt hat. Hier in Pinyudo trifft er Anchor, der auch später sein Freund bleibt, und dieser kleine Kerl war mit seinen zehn Jahren sogar schon alt genug, um als Kindersoldat rekrutiert zu werden. Bis zu ihrem Weg in die sicheren Flüchtlingslager in Kenia haben die vielen tausend entwurzelten Jugendlichen eine scheinbar endlose Folge übelster Grausamkeiten mit angesehen oder durchgestanden, aber auch vereinzelte Momente instinktiver menschlicher Zuwendung erlebt.

Der Alptraum der Jungs wird nur zuweilen von annähernd friedlichen Phasen unterbrochen, gerade lange genug, um ein wenig Kraft zu schöpfen für die nächsten beklemmenden Ereignisse. Was wunder, dass Valentino nun, drei Jahre nach der rettenden Aufnahme durch die USA, kaum in dem Maße von dem brutalen Überfall erschüttert ist, wie es ein unbedarfter Einheimischer wohl wäre. Allerdings hatte er zu allem Unglück bereits seine erste Lagerliebe Tabitha hier in dem vermeintlich sicheren Land durch eine Gealttat verloren und für sich festgestellt: „Gott hat ein Problem mit mir."

Wie man als Leser dieses gewaltige und von Gewalt durchzogene Epos ertragen kann? Es sind der grimmige Humor, der bisweilen einfließt, die Leidenschaft des Mitempfindens und die tiefe Menschlichkeit, die dieses grandiose Stück Literatur trotz allen Leidens und Grauens zu einer packenden Lektüre machen, die verzaubert und unvergesslich bleiben wird.

 

# Dave Eggers: Weit gegangen. Das Leben des Valentino Achak Deng (aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann); 765 Seiten; Kiepenheuer & Witsch, Köln; € 24,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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