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MICHAEL KUMPFMÜLLER: „NACHRICHT AN ALLE"

Wie funktionieren Politiker in einer gegenwärtigen Demokratie ähnlich der unseren und kann man daraus einen spannenden und zugleich authentischen Roman machen? Michael Kumpfmüller ist das Kunststück mit „Nachricht an alle" auf eindrucksvolle Weise gelungen.

Schon der Einstieg setzt einen Paukenschlag, wenn Innenminister Selden nachts eine SMS von seiner Tochter erhält mit der Schreckensnachricht: „O mein Gott. Es hat eine Explosion gegeben. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe euch." Doch es war ein technischer Defekt und kein Anschlag und auch sonst fällt die Trauerarbeit Seldens gering aus, stattdessen funktioniert er weiter. Und um dieses Funktionieren geht es hier, denn der in jungen Anwaltsjahren als Idealist bekannte Pragmatiker Anfang 50 steht längst im politischen Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit und vertritt durchaus „die paranoide Weltsicht eines Innenministers".

Aktuell gibt es Probleme mit ausufernden Streiks, auf anderer Ebene schaukeln sich ziellose jugendliche Klein-Anarchisten zu gefährlichen Unruhestiftern mit Gewaltausbrüchen auf und es kommt später sogar zu einer seltsam erratischen Attacke auf Selden, ganz am Rande des Systems und lächerlich unpolitisch. Bis dahin aber blickt man hinein ins praktische politische Leben und die vielen Sichtweisen. Sie kommen alle zu Wort, die kleinen Terroristen, die Leute des Apparats, Rechte und Linke, die Leibwächter.

Und nicht zu vergessen die Medien, deren Hyänenarbeit ebenso realistisch wie kritisch seziert wird. Wie sie dem aufstrebenden Selden den Garaus machen wollen, weil er einfach „dran" ist, aber auch Stoff bietet mit seinen heimlichen Hoteltreffs in Brüssel, mit angeblichen privaten Finanzmauscheleien und seiner zweiten Ehe mit der mittelmäßigen Malerin Britta, die sogar einen ihm gar nicht so willkommenen Aufschwung erleben soll, als er zum Kronprinzen des amtierenden Regierungschefs aufsteigt. Der kommentiert den ohnehin erfolglosen Sudelangriff nüchtern: „Wenn die Kameras dich nicht mehr verfolgen, löschen sie dich auch aus."

Doch auch wenn die amourösen Abwechslungen – stets unter der Obhut der Bodyguards – auch routiniert ablaufen und Selden Gefühlen wenig Platz gewährt, berührt ihn das Verhältnis zu der jungen Journalistin Hanna mehr, als er zugibt und mehr, als in seinen typischen Politikeralltag passt. Stets folgen sie alle den eingefahrenen Gesetzmäßigkeiten und sind weitgehend nur noch Reagierende, mit wenig Illusionen und noch weniger Visionen und auch Selden befindet sich längst im Stande einer Art tatkräftiger Resignation.

Der dramatische Einstieg mit der Schreckens-SMS findet schließlich mit einem wahren Geniestreich als Finale einen verblüffend stimmigen Gegenpart und hinterlässt kühl analysierend ein vielfältiges Mosaik der Gegenwart von faszinierendem Glanze. Fazit: ein rasant erzählter anspruchsvoller Politroman von höchsten Qualitäten.

# Michael Kumpfmüller: Nachricht an alle; 383 Seiten; Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)