CHIMAMANDA NGOZI ADICHIE: „DIE HÄLFTE DER SONNE"

Eine halbe Sonne war das Emblem der Flagge von Biafra, jenem kurzlebigen afrikanischen Staat, der 1967 ausgerufen und bis Anfang 1970 durch einen der furchtbarsten Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts wieder getilgt wurde. „Die Hälfte der Sonne" heißt auch der zweite Roman von Chimamanda Ngozi Adichie, der als monumentales Werk vor dem Hintergrund dieses Geschehens handelt. Und eines sei vorweg gesagt: selten gelingt es einem Autor, einen solch exzellenten Erstling wie ihr „Blauer Hisbiskus" mit dem folgenden Roman noch derartig zu übertreffen.

Die sogleich fesselnde Geschichte beginnt mit politischen Debatten im Hause des sozialistischen Mathematik-Professors Odenigbo, mit Büchern an der Universität im südostnigerianischen Nsukka und mit friedlichem Leben in einem Igbo-Dorf. Am Ende dann brennen Bibliotheken und Zivilisten werden niedergemetzelt. Dazwischen erzählt die gebürtige Nigerianerin, die selbst zwei Großväter in dem Bürgerkrieg verlor, wie der von den britischen Kolonialherren 1960 in die Unabhängigkeit entlassene Vielvölkerstaat innerhalb weniger Jahre in die von ethnisch und religiös geprägten Hassausbrüchen durchsetzte Katastrophe schlittert.

Die Autorin schafft dafür Protagonisten von unverwechselbarem Charakter und entwickelt durch drei miteinander verwobene Erzählstränge eine faszinierende Sogwirkung. Der 13-jährige Ugwu kommt als ungebildeter Houseboy zum Professor, gerade als dessen schöne Geliebte Olanna nach dem Studium in London in das Haus zieht, das häufig Schaplatz großer politischer Diskussionen ist. Ihre wenig attraktive aber clevere Zwillingsschwester Kainene, die die Geschäfte des neureichen Vaters weiterführen soll, ist mit dem Engländer Richard Churchill („Nein, nicht mit Winston verwandt!") liiert, der auf Dauer hier als Schriftsteller leben will.

In das Leben dieser exzellent zu realen Menschen ausgestalteten Figuren schleicht sich als zunächst nur mäßig beunruhigende Nachricht die drohende Katastrophe ein. Die Gegensätze eskalieren und als es schließlich im fernen Lagos zu einem fehlgeschlagenen Putsch gegen den islamischen Staatschef kommt, gilt er als Putsch des Igbo-Stammes. Die Situation eskaliert unaufhaltsam und als sich der christlich-animistisch geprägte Südosten als eigener Staat Biafra abspaltet, bricht der Krieg real und mit grausamer Härte auch über die Protagonisten des Romans herein und fegt in kürzester Zeit die naive Begeisterung hinweg.

Biafra versinkt in Blut, Hungersnot und Tod und wird ein entsetzlicher Vorläufer von unmenschlichen ethnisch-religiösen Bürgerkriegen wie später in Jugoslawien und Ruanda. Die Autorin erweist sich anhand dieses schwierigen Sujets als begnadete Erzählerin, der es in ihrer gradlinig und doch so eleganten Prosa souverän gelingt, Szenen von Mord, Vergewaltigung, Hunger und Unmenschlichkeit ebenso nüchtern wie bewegend dazubringen. Tiefe Einblicke in die Gedankenwelt der Akteure auf allen Ebenen geben dem Roman eine allgemeingültige authentische Dimension. Und wenn dieses Meisterwerk kürzlich mit dem britischen Orange-Preis bedacht wurde, gibt es dennoch ein noch höheres literarisches Lob für die 1977 geborene Afrikanerin: man vergleicht sie bereits mit Chinua Achebe, dem soeben mit dem International Booker-Prize geehrten Vater der modernen afrikanischen Literatur.

 

# Chimamanda Ngozi Adichie: Die Hälfte der Sonne (aus dem Englischen von Judith Schwab); 637 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München; € 22,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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