SCOTT TUROW: "DER BEFEHL"

Mit einem wahren Geniestreich gelingt Scott Turow in seinem siebten Roman der Wechsel aus den Gerichtsälen aufs Schlachtfeld. Der US-Erfolgsautor präsentiert sich gewohnt brillant und dieser Antikriegsroman braucht in der Souveränität und seiner nachhaltigen Wirkung keinen Vergleich mit Remarques "Im Westen nichts Neues" oder Mailers "Die Nackten und die Toten" zu scheuen.

Als der Mittfünfziger Stewart Dubinsky nach dem Tod seines Vaters in dessen Hinterlassenschaft 60 Jahre alte Briefe und Dokumente findet, die offenbar auch seine Mutter nicht kennt, eröffnet sich ihm ein Bild des ehrpusseligen Familienvaters und angesehenen Versicherungsanwalts, das die gesamte Familiengeschichte umkrempelt. Seite für Seite entdeckt er einen gänzlich anderen Menschen, während er mit seinen erstaunten Fragen bei der Mutter auf entschiedene Ablehnung stößt.

Wie kann es angehen, dass sein Vater 1945 von einem Militärgericht zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er als Militärstaatsanwalt einem Landesverräter zur Flucht verholfen hat? Und wie konnte er dennoch im selben Jahr die Mutter, eine soeben gerettete KZ-Insassin, heiraten und mit ihr ein friedliches Familienleben in den USA beginnen? Stewart durchforstet alte Archive und erlebt die nächste Überraschung: Vaters Akten unterliegen 60 Jahre nach den Geschehnissen noch immer strengster Geheimhaltung.

Aus der spannenden Suche des Ich-Erzählers Stewart wird endgültig ein packender Thriller, als es dem Sohn gelingt, den betagten Verteidiger seines Vaters ausfindig zu machen. Dieser bewahrt ein Manuskript auf, das Captain David Dubin damals im Gefängnis verfasst hat, und mit diesem neuen Ich-Erzähler erhält der Roman eine ebenso mitreißende wie tief berührende Dimension, denn der bis dato eher naive Rechtsanwalt mit dem frontfernen Posten wird mitten in die blutigsten Ereignisse der letzten Kriegsmonate in Europa geworfen. Er erhält den Befehl, den Geheimdienstmajor Robert Martin zu verhaften, einen legendären Helden vieler Kommandoeinsätze hinter der Front. Der verdienstvolle Kriegsheld läuft mittlerweile offenbar aus dem Ruder, missachtet Befehle und nährt sogar den Verdacht, für die Sowjets zu spio-nieren. Als David ihn auffindet, gerät er nicht nur in den Bann Martins sondern auch in den seiner rätselhaf-ten Kampfgefährtin, der aus Polen entkommenden Gita. David erlebt einen der tollkühnen Einsätze mit, danach entzieht sich Martin raffiniert seiner Verhaftung.

Als man seine Spur im Spätherbst 1944 wiederentdeckt, wird David in Frontnähe aus der Luft abgesetzt. Statt Martin findet er sich jedoch umgehend mitten im heftigsten Kampfgetümmel der hereinbrechenden Ardennen-Offensive fanatischer SS-Truppen wieder. Das Grauen des Krieges in schlimmsten Ausformungen durchleidet er als unfassbare Desillusionierung, die dem Idealisten jeden Glauben an Recht und Gesetz nimmt. Nicht zuletzt dank einer gesunden Feigheit wird er gar zum Helden, der Leben rettet. David erlebt einen kurzen erratischen Taumel von Liebesglück mit Gita, bis nach all dem Durch-littenen schließlich ein Blick in die Hölle eines soeben befreiten KZs ihn in den letzten Grundfesten erschüttert. Es gibt gute Gründe, warum er dann den inzwischen gefassten Martin entkommen lässt, und es gibt Geheimnisse, die Geheimnisse bleiben müssen in ihrer Ungeheuerlichkeit.

Das Alles ist mit seinen Überraschungen und Wendungen stets palusibel, überzeugend und zugleich von einer gewaltigenmoralischen Dimension. Mit großer Sprachgewalt und exzellenten Charakterzeichnungen vor authentischem Hintergrund fesselt diese Geschichte von den Auflösungserscheinungen, die das Kriegsgeschenen in keder noch so ziviliserten Persönlichkeit verursacht. Fazit: dieser leidenschaftliche Appell gegen jeglichen Krieg ist ein Meisterwerk auf hohem literarischem Niveau.

 

# Scott Turow: Der Befehl (aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann); 544 Seiten; Karl Blessing Verlag, München; € 21,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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