MATT RUFF: "ICH UND DIE ANDEREN"

Durch seine bisherigen Romane wurde Matt Ruff nicht nur in den USA zu einem Kultautor. Mit seinem neuen Buch "Ich und die Anderen" aber verlässt er das Feld der Skurrilitäten und lässt sich auf ein ernstes, heikles Thema ein, das des Multiplen Persönlichkeitssyndroms (MPS). Und es sei schon einmal vorweggenommen: mit überwältigendem Erfolg.

Im Mittelpunkt steht Andy Gage, Mitte 30. Doch schon diese Feststellung ist ungenau, denn Andy ist nicht allein in seinem Kopf. Wie es typisch für Menschen mit dieser dissoziativen Identitätsstörung ist, haben sie eine spezielle destruktive Methode der Stressbewältigung, indem sie in andere Persönlichkeiten wechseln. Meist unbewusst, zuweilen mit bis zur Agression untereinander widerstreitenden Identitäten und durchaus so intensiv, dass die 'Hauptperson' später von durchlebten Geschehnissen nichts weiß, selbst wenn sie auf massive Weise aktiv gewesen sein sollte.

Andy hat einen Therapeuten gefunden, der ihn so weit konditionierte, dass er für seine sehr verschiedenen 'Personen' eine Art konkret konstruiertes Haus im Kopf eingerichtet hat. Dieses sehr spezielle Familienleben quasi mit sich selbst im Kopf funktioniert relativ gut, auch dank des Vaters, der in der Kopf-Sozietät die moralische Führung innehat. Mit seiner andersartigen Psyche, die natürlich das gesamte Denken und die Lebensführung prägt, findet Andy einen adäquaten Job bei der Softwarefirma "Reality Factory" und fühlt sich wohl.

Doch es kommt Bewegung in seine soeben gefundene Ruhe, als mit Penny Driver eine Kollegin eingestellt wird, die ebenfalls unter MPS leidet, dies allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein. Als sich die Beiden schließlich in Andys alte Heimat aufmachen, geraten sie in reale Gefahren, zumal sich in extremem Stress die diversen Akteure im Kopf kaum noch lenken lassen. Und ebenso verwirrend und zugleich fesselnd ist der oft unvermittelte Wechsel der Erzählperspektiven, wenn die gerade aktive Persönlichkeit berichtet. Auf mitreißende Art erfährt man dabei viel Erhellendes über diese zersplitterten Seelen von MPS-Betroffenen, deren Störung in der Regel die Folge psychischer Katastrophen in der Kindheit wie z.B. schwerer sexueller Missbrauch ist.

Matt Ruff geht das sensible Thema ebenso respektvoll wie auch mit trockenem Humor an und schafft so einen komplexen Roman, der verwirrt, bewegt und mit seiner oft erschreckend rauen Poesie ebenso zu verblüffen weiß wie mit manchen Wendungen, die bei aller Überraschung dann doch glaubhaft sind. Ein schwieriges Buch und ein großartiges Stück Literatur der unvergesslichen Art.

 

# Matt Ruff: Ich und die Anderen (aus dem Amerikanischen von Giovanni und Ditte Bandini); 600 Seiten; Carl Hanser, München; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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