CHRISTOPH NEIDHART: "OSTSEE"

"Ostsee", das ist ein Lesebuch, das einer wunderbaren Rundreise gleichkommt und sehr intensiv zu einer solchen einlädt. Verfasst hat es der renommierte Schweizer Journalist Christoph Neidhart, ein Experte für diese Region. Bewusst nennt er das Mare Balticum im Untertitel "Das Meer in unserer Mitte" und meint damit das Europa unserer Gegenwart.

In neun Kapiteln jeweils mit etlichen Abhandlungen widmet er sich der Geschichte, der Kultur, den Völkern und der speziellen Geografie der Ostsee. Ob Dänen, Schweden, Russen oder gar Preußen, alle versuchten, das meist zahme Binnenmeer zu beherrschen, das seine erste große Blüte jedoch unter der Hanse im 13./14. Jahrhundert erlebte, in gewisser Weise einer Vorläuferin der Europäischen Union. Wie damals sind es seit dem Zusammenbruch des Ostblocks die Gemeinsamkeiten des Handels und der Begegnungen, die die Anrainer miteinander verbinden. Und das heutzutage noch verstärkt durch enge politische und wirtschaftliche Verknüpfungen, ein dichtes Netz von Fährlinien und neue große Brücken.

Neidhart entwirft dazu mit schnellen und dennoch präzisen Strichen die Gegensätze und Gemeinsamkeiten in den Jahrhunderten, die trotz zahlreicher Kriege und weltanschaulicher Reibungen erstaunliche Ähnlichkeiten und gar Verwandtschaftliches in den Volkscharakteren offenbaren. Am deutlichsten vermag der Autor dies an den prachtvollen Städten sowie den Menschen und der Kultur aufzuweisen. Wenn er da die gesellschaftlichen Gegensätze von Armut und Reichtum im Sankt Petersburg unserer Tage beschreibt, kann er mit konkreten Beispielen belegen, dass das heute so blühende Stockholm vor noch kaum 100 Jahren kein besseres Paradies für die Gesamtheit der Bürger war.

Doch rund um die Ostsee wechselten nicht nur häufig die Machtverhältnisse, dort stand auch für viele Ideen und Ideologien die Wiege. Da wurde in Königsberg von Immanuel Kant die Vernunft ausgerufen und keine 100 Jahre später eroberte der Bolschewismus von Sankt Petersburg aus einen Teil der Welt. War hier die Volksbeglückung für die Betroffenen eher von zweifelhafter Natur, wuchs gleich gegenüber Schweden zum Modellfall eines Wohlfahrtstaates heran. Und vorübergehend wurde die Ostsee sogar tatsächlich zu einem richtigen 'Roten Meer', als sämtliche Anrainerstaaten zeitweise sozialistisch oder sozialdemokratisch regiert wurden.

Viel Raum finden in dem aufschlussreichen Buch aber auch Feinheiten, seien es die Inseln mit ihren Eigenarten, seien es die Ideenschmieden, aus denen einst das Thermometer, das Streicholz und die Melkmaschine ebenso kamen wie heute rund zwei Drittel aller Mobiltelefone der Welt. Das Alles wird besonders vor dem Hintergrund des rasanten Wandels der letzten 15 Jahre spannend und offenbart faszinierende Entwicklungen. Die Zusammenhänge sind glänzend gerafft und verständlich gemacht und so bleibt als Fazit zu sagen: "Ostsee" ist ein exzellentes historisches Geschichtenbuch, das dem Mare Baltikum gewiss noch mehr Freunde bescheren wird.