ANNIE ERNAUX: "SICH VERLIEREN"

Annie lernt einen russischen Diplomaten kennen, der an der Pariser Botschaft tätig ist. Sie ist 48, er 36, und es entspinnt sich eine heftige Beziehung von höchster erotischer Intensität. Ständig bedroht von der Unsicherheit, dass er plötzlich abberufen werden könnte. Oder wegen Ehefrau und Karriere eines Tages der nächste Anruf ausbleibt.

Doch das ist keine wohlerfundene Geschichte, die hier unter dem Titel "Sich verlieren" geschrieben ist, denn "Die Geschichte einer Obsession" – so der Untertitel des Buches – ist absolut authentisch! Autorin Annie Ernaux erlebte und durchlitt diese 14 Monate einer großen, glühenden Liebe mit ihrem wahrhaft heimlichen Geliebten und viel später erst wagte sie, die seinerzeit aktuell niedergeschriebenen Tagebücher als Buch zu veröffentlichen.

Sie war bereits eine erfolgreiche Schriftstellerin in Frankreich, als sie S. im September 1988 auf einer Reise nach Leningrad kennenlernt und sich sofort in ihn verliebt. Als er bald darauf nach Paris versetzt wird, entwickelt sich aus ihren fast täglichen und dennoch heimlichen Treffen eine Besessenheit voller Schönheit, Leidenschaft und Lust. Sie weiß wenig von ihm, außer dass er verheiratet, überzeugter Kommunist und durch und durch ein Chauvinist ist. In ihrer grenzenlosen Hingabe empfindet sie sich als "die Schlampe, die Fremde, die freie Frau" und er beherrscht ihr Denken, Fühlen, Begehren.

Doch mit der Fortdauer der ekstatischen Beziehung werden Tage ohne ihn, ohne Anruf, zur Qual. Was bedeutet sie ihm wirklich? Für die geschiedene Frau sind es offenbar schmerzliche Sehnsüchte, die nach früheren Enttäuschungen endlich ihre Erfüllung finden. Zugleich wächst die Angst, er könnte plötzlich abreisen: "Ich liebe immer, als sei es das letzte Mal. Und es könnte ja immer das letzte Mal im Leben sein." Dann der 16. November 1989, eine Woche nach dem Mauerfall in Berlin die lapidare Antwort der Telefonistin in der Botschaft: Monsieur S. ist nach Moskau abgreist. Es folgen Monate des Leidens, der Apathie und immer der Träume.

"Sich verlieren" ist das fesselnde Zeugnis einer Obsession, das die Autorin ohne jede Koketterie schonungslos und offen ablegt. Die sensible Schilderung dieser Gratwanderung zwischen Liebe, Wahnsinn und dem Wissen um die Endlichkeit des Glücks offenbart einen tiefen Blick ins Innere der Seele einer intelligenten reifen Frau und berührt um so mehr, als es ihr eigenes authentisches Erleben gewesen ist.

 

# Annie Ernaux: Sich verlieren (aus dem Französischen von Gaby Wurster); 288 Seiten; Goldmann Verlag, München; € 21,90 WOLFGANG A.NIEMANN (wan/JULIUS)

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