MIKAEL NIEMI: "POPULÄRMUSIK AUS VITTULA"

Kritiker und Leser jubelten gleichermaßen über Mikael Niemis "Populärmusik aus Vittula". Warum das so war, lässt dieses Tagebuch einer Kindheit und Jugend im hohen Norden nahe der Grenze zu Finnland schon in einer frühen Passage der 20 Kapitel ahnen: "Kein Auge blieb bei der Versammlung trocken."

Und das gilt für das gesamte Buch, allerdings sind es zuvörderst Tränen vor Lachen, denn diese Lausbubengeschichte ist vom Deftigsten und zugleich menschlich tief anrührend. Schon wenn sich Ich-Erzähler Matti und der extrem wortkarge Niila als Fünfjährige kennenlernen und der seltsame Junge ihm klar macht, dass er sein Freund werden will, gerät das ebenso köstlich wie unappetitlich. Und im Handumdrehen gelangen die Knirpse als blinde Passagiere bis nach Frankfurt.

Hier oben im abgelegenen Tornedal bei Pajala aber in einer rauen kargen Landschaft mit kurzen Sommern und endlosen Wintern mit ebensolchen Nächten, viel Schnee und großer Kälte, sind die Menschen kauzig und nicht eben zart besaitet. In der Kindheit setzt es Prügel, untereinander und von den Vätern. Obendrein herrscht der obskure Laestadianismus, ein christliches Sektierertum, das die Gegend einst mit extremer Strenge und Lustfeindlichkeit von allen Lastern heilte. Mit aberwitzig fragwürdigem Erfolg allerdings.

Für Matti, Niila und ein paar Freunde jedoch bricht in den 60er Jahren etwas in ihr erstarrtes Kaff ein: sie hören zum ersten Mal Rock & Roll-Musik und es gibt eine Art Erwachen aus der dumpfsinnigen Polarnacht. Doch wie wird man Musiker, woher Instrumente nehmen und das Spielen erlernen?! Da gehört dann jener skurrile Rattenvernichtungsfeldzug Mattis zu den umwerfendsten Kapiteln des Buches. Nicht nur ihn sondern auch den Leser würgt es da zuweilen heftig, aber sein emsiges Wirken bringt Geld und schließlich die ersehnte E-Gitarre.

Eine solch zupackend, plastisch und drastisch geschilderte Pubertät beschert ununterbrochen Zwerchfellerschütterungen von den leberschädigenden Initiationsriten über die absonderliche Premiere der Möchtegern-Rockband bis hin zum gnadenlos komischen 'ersten Mal' Mattis mit einer verwegenen Dorfschönheit. Autor Niemi erzählt das Alles mit hoher Eindringlichkeit und lässt einen ganzen Kosmos voller knorriger Charaktere entstehen. Zugleich hat er mit überquellender Fabulierkunst die Vorlage für einen absoluten Kultfilm geschaffen.

 

 

# Mikael Niemi: Populärmusik aus Vittula (aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt); 304 Seiten; btb, München; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: Bel 170 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de