MARTIN BERADT: "DIE STRAßE DER KLEINEN
EWIGKEIT" "Die Straße der kleinen Ewigkeit", das ist ein Panorama des Berliner Scheunenviertel um 1927, damals, als es von 100.000 zugewanderten Ostjuden bevölkert war, die sich in diesem verkommenen Viertel gleich hinterm Alexanderplatz mit den einheimischen Randexistenzen auf engstem Raum tummelten. Martin Beradt (1881-1949), erfolgreicher jüdischer
Anwalt und Literat, schloss diesen Roman über die Menschen in der Grenadierstraße, über
das jüdische Leben am unteren Ende der Gesellschaftsskala, 1939 im Exil ab. Aber erst
1965 gelang seiner Witwe die Veröffentlichung des hervorragend geschriebenen Werkes.
Damals jedoch fand es kaum Beachtung, denn hier wurden ja die anderen, die proletarischen
Juden und ihr armseliges Leben geschildert und nicht die jüdischen Edelmenschen von hoher
Gesinnung, Wohlstand und mit deutschen Pass, die die Nazis in den 30er Jahren demütigten
und in den 40er Jahren zu Millionen vernichteten. "Beide Seiten einer Straße", so der
ursprüngliche Titel des Werkes, erzählt die Sage von einer Judengasse, in die nach
Weltkrieg und Russischer Revolution entwurzelte Juden ziehen. Inmitten der Goldenen 20er
im brodelnden Berlin ist dieser Schrottplatz der Gesellschaft für sie ein kleines
Paradies ohne Verfolgung. Ausgehend vom jungen Frajm Feingold aus einem
ärmlichen polnischen Dorf, der zwar Unterkunft und Verpflegung bei der gütigen Frau
Warszawski aber keine Arbeit findet, entfaltet Beradt das ganze Spektrum jüdischen Lebens
in dem übervölkerten Viertel. Der Autor erweist sich als Meister des Zeitkolorit, bei
dem jede Szene, jeder Charakterzug sitzt. Es entsteht das Gefühl eines ganz eigenen
Verhaltenskodex und so typisch all die Figuren sind, so individuell ist auch jede von
ihnen. Diese Geschichtensammlung, gewürzt mit allerlei
skurrilen Gleichnissen und Weisheiten von zum Teil zwerchfellerschütternder
Treffsicherheit, lässt den Leser in eine ganz andere Welt eintauchen. Doch mag sie auch
ärmlich sein, oft auch chaotisch und widersprüchlich, so ist sie gleichermaßen auf
intensive und anrührende Weise zutiefst menschlich und von vielfältigsten Farben und
Nuancen geprägt. Hinzu kommt das köstliche Jiddisch und die oft genug verzwickte
jüdische Logik, gepaart mit einem geradezu störrischen Stolz noch in größter Armut und
Not. Dieses Buch ist nicht nur eine literarische Pretiose,
deren Neuauflage längst überfällig war, es ist auch ein wertvoller Historienbeitrag zu
einem Ort und einer Zeit und den Menschen darin, über die zu Unrecht viel zu wenig
bekannt ist. Den Zugang zum besseren Verständnis des Romanes erleichtern im Übrigen zwei
exzellente Essays von Eike Geisel, die dem Roman beigefügt sind. |
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# Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit
(mit 2 Essays v. Eike Geisel); div. Abb.; 376 Seiten; Eichborn Verlag, Frankfurt; 49,50 DM (öS 361.-/sFr 49.50/ 24,54) WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) |
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Kennziffer: BelA 002 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de |