SARAH BROOKS: HANDBUCH FÜR
DEN VORSICHTIGEN REISENDEN DURCH DAS ÖDLAND
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland ist ein
Reiseführer von Valentin Rostow, verfasst 1880 für die Transsibirien-Kompanie (TK) für
deren Eisenbahnzug von Peking nach Moskau. Der Zug selbst ist ein Wunder seiner
Zeit, sagt der später in Ungnade gefallene Autor über das Meisterwerk der
Ingenieurskunst.
Und das ist der einzigartige Schauplatz eines wahrhaft außergewöhnlichen Romans, der
denselben Titel trägt wie Rostows Reisemanual, das dann als Klammer zwischen den Kapiteln
dient. Autorin ist die bereits für das Werk preisgekrönte Britin Sarah Brooks und
herausgekommen ist bei ihrem Debüt eine fantasmagorische Abenteuerfahrt in
Steampunk-Zeiten.
Die Technikbegeisterung der Viktorianischen Ära gepaart mit unbändigem Gewinnstreben
haben diesen speziellen Zug auf die Gleise gebracht. 20 Waggons lang samt Aussichtswagen
und mit zwei Wachtürmen ebenso ausgestattet wie mit feinstem Luxus, bewältigt er die
6000 Kilometer lange Strecke in 15 Tagen.
Der Luxus beschränkt sich natürlich auf die Erste Klasse, die Dritte Klasse ist
gewöhnlich eingerichtet (eine Zweite gibt es nicht!). Der Zug ist gepanzert und
sämtliche Türen werden schwer gesichert, denn die Fahrt geht über weite Strecken durch
das gefürchtete Großsibirische Ödland mit seinen unheimlichen Gefahren.
Nun schreibt man das Jahr 1899 und die TK hat die Warnungen von Valentin Rostow mit
Arroganz und Ignoranz unterdrückt, nachdem es bei der letzten Fahrt durch geborstene
Schreiben immerhin drei Tote gegeben hat. Was Zhang Weiwei, das 16-jährige sogenannte
Zugkind sie wurde im Zug geboren und lebt seither in ihm bei Beginn der
jetzigen Reise besonders beunruhigt: erstmals ist man ohne Segnung losgefahren.
Unter den illustren Reisenden findet sich neben einer echten Gräfin, dem weisen alten
Artemis und dem Forscher Dr. Henry Grey auch Maria Petrowna. Was nicht ihr richtiger Name
ist, vielmehr ist sie die Tochter Rostows, die herausbekommen will, was ihr Vater
aufgedeckt hatte und wofür man ihn in den Tod trieb.
Als unangenehme Figuren geistern außerdem die Krähen durch den Zug,
offiziell Berater der TK, in Wirklichkeit jedoch deren giftige Kontrolleure. Um so
seltener erscheint der Zug-Chef, der Captain hinter dem sich allerdings eine Frau
verbirgt. Weitere Protagonisten erhalten nach und nach ebenso prägende Konturen, während
der Zug dem Ödland entgegenrast.
Jeder Passagier musste vor Fahrtantritt eine Risiko-Anerkenntniserklärung unterschreiben,
die die in London sitzende Kompanie von allen Ansprüchen befreit, falls unterwegs etwas
passiert. Und es gibt düstere Geschichten von Vorfällen, denn das Ödland-Weh kann zu
Halluzinationen, Irresein und anderem unerklärlichem Entgleiten des Verstandes führen.
Sind es Hirngespinste, flirrende Phänomene angsteinflößender Fantasien? Und sie setzen
ein, die bedrohlichen und immer verrückter werdenden Dinge, während der Zug nun auf ein
Nebengleis fährt und durch Wasserflächen ausgebremst wird. Jetzt ist es Weiwei, die
jedes Geheimnis des Zuges kennt, die in einem Dachgelass (einst für Schmuggelwaren
installiert!) ein Wesen aus dem Ödland als blinden Passagier entdeckt.
Als dieses seltsame Mädchen entflieht, sorgt das für gravierende Folgen, denn Dr. Grey,
der einst düpierte überehrgeizige Wissenschaftler jagt ihr nach. Mit Helm und
Schutzanzug nutzt er den Halt, um in dieser Wildnis Exponate zu sammeln. Er erlebt einen
regelrechten Fiebertraum und erkennt: Die Natur folgt einer Logik, einem System.
Aber nicht hier.
Weiwei muss Grey vor dem wabernden Grauen retten, doch zusammen begehen sie den fatalsten
denkbaren Sündenfall sie bringen das Draußen nach Drinnen
und der gewissenlose Grey erkennt schließlich wahnhaft: Der neue Garten Eden
erobert den Zug. Und immer mehr wird die Weiterfahrt zu einem surrealen
Parforceritt, als führe Agatha Christie's Orient-Express durch einen Horrorfilm von
Stephen King, denn: Der Zug verändert sich.
Schier unbändig überschlägt sich diese Szenerie geradezu mit atemberaubender Fantasie
als Abenteuerroman mit Ansätzen eines exzellenten Öko-Thrillers. Fazit: wunderbar
altmodisch erzählt, ist dies ein brillantes Lesefeuerwerk und absolut filmreif obendrein.
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