ELIF SHAFAK: AM HIMMEL DIE
FLÜSSE
Mit ihrem jüngsten Roman entwirft die anglo-türkische Erfolgsautorin Elif Shafak eine
Menschheitsgeschichte über Jahrtausende hinweg und sie übertrifft sich mit diesem
Wunderwerk der Erzählkunst noch selbst.
Am Himmel die Flüsse heißt der Titel und Wasser ist das alles verbindende
Element. So beginnt der große Reigen um 630 vor unserer Zeitrechnung mit einem
Regentropfen. Der fällt auf das Haupt des assyrischen Herrschers Assurbanipal von Ninive,
der prächtigsten Stadt seiner Zeit. Dieser König ist eine Art Intellektueller der
Frühzeit und der wohl größte Schatz seiner Bibliothek ist das Gilgamesch-Epos.
Doch der Erzählfluss springt nun in den November 1840, als der bewusste Tropfen als
Schneeflocke auf die Lippen eines Neugeborenen fällt. In London am Ufer der
schmutzstarrenden Themse unter ärmlichsten Bedingungen geboren, nennen ihn die anwesenden
Lumpensammler Arthur, König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere.
Entgegen aller Not führt eine einzigartige Gabe diesen Jungen mit unerschütterlicher
Zähigkeit zu einer außergewöhnlichen Karriere: er hat das absolute Gedächtnis. Und das
lässt ihn nicht nur auf verschlungenen Wegen ins British Museum auf die riesigen Lamassus
stoßen, jene steinernen Wächter aus dem antiken Ninive, sondern auch auf die
ungeordneten assyrischen Tontafeln.
Arthur dem realen Sonderling George Smith nachempfunden begeistert sich
nicht nur für die alten Schätze. Was niemandem sonst bisher gelingt, schafft dieser
belesene, ansonsten aber völlig ungebildete Außenseiter: er entziffert die
Keilschrifttafeln und bringt das Gilgamesch-Epos in die Neuzeit.
Mag dieser junge Mann auch die große Klammer dieses Romans sein, so geht der Erzählstrom
auf einer zweiten Ebene ins Jahr 2014 und eben jenes einst assyrische Mesopotamien, wo der
gewaltige türkische Ilisu-Staudamm Euphrat und Tigris das Wasser abzugraben droht.
Hier lebt in einer Gegend voller uralter historischer Stätten Narin, ein neunjähriges
Jesiden-Mädchen. Es soll gerade getauft werden, weil es wegen einer seltenen Krankheit
zunehmend sein Gehör verliert. Was für sie, deren Volk seine religiösen
Überlieferungen ausschließlich mündlich weitergibt, besonders fatal wäre, wenn sie die
wunderbaren Erzählungen ihrer Großmutter nicht mehr wird hören können.
Noch schlimmer und für sie völlig unbegreiflich sind jedoch die heftigen Anfeindungen
als Teufelsanbeter durch die muslimischen Völker rundherum. Was endgültig
zur Katastrophe wird, als sie nicht nur für den Staudamm aus ihrer angestammten Gegen
vertrieben werden, sondern dann auch noch dem barbarischen Genozid durch den
Islamischen Staat anheimfallen.
Bleibt als dritter Erzählstrang im Jahr 2018 der um die 30-jährige Zaleekhah Clarke,
Hydrologin mit irakischen Wurzeln, die unter dem Tod ihrer Eltern in ihrer Kindheit und
ihrer Entwurzelung durch die Flucht leidet. Sie zieht nach der Trennung vom Ehemann in ein
Hausboot auf der Themse, wo die Begegnung mit der Historikerin Nen, die bevorzugten Kunden
in ihrem Tätowier-Studio assyrische Keilschriftzeichen sticht, sie schließlich vom
Suizid abhält.
Zaalekhah ist es auch, die von einem Gedächtnis des Wassers überzeugt ist. Und so zieht
der Regentropfen aus dem einstigen Ninive mit einer Art magischer Poesie seinen Weg durch
die majestätisch schöne und anspruchsvolle Geschichte. Die sogar in ein kleines, wenn
auch beklemmendes Happyend mündet.
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