CAROLINE ROSALES: DIE
UNGELEBTEN
Jennifer Boyard will doch nur alles richtig machen und allen gefallen. Vor allem dem
ständig fordernden tyrannischen Vater. Doch sie hat sich noch nicht von der Geburt des
dritten Kindes erholt: so ausgehöhlt, Hängebrüste, der Bauch wie Quark und die Haare
ausgezehrt.
Eine Mutter aus dem Kindergarten hat ihr ein Mommy-Makeover angeraten und die 15.000 Euro
dafür wären kein Problem. Jennifer hat ein siebenstelliges Konto, ansonsten aber ist die
40-Jährige mit dem Ordnungsfimmel und dem Sauberkeitstick, salopp ausgedrückt, 'ne
arme Sau.
Und mit diesem kein bisschen zimperlichen Bericht über die Befindlichkeiten einer
typischen Tochter reicher Eltern beginnt Caroline Rosales ihren jüngsten Roman unter dem
Titel Die Ungelebten. Wie wenig trivial diese Geschichte ist, eröffnet sich
schnell, denn Jennifer ist nicht nur gestresste Mutter mit pflichtschuldigem Sexleben,
sondern auch toughe Geschäftsführerin von Boyard-Records.
Das mächtige Schlager-Imperium, das ihr Vater aufgebaut hat, leitet sie als Papas
Mädchen bis zur Selbstaufgabe. Nun aber taucht eine üble Bedrohung auf: das
einstige Schlager-Sternchen Lara Lorelei will mit einem schweren Vorwurf an die
Öffentlichkeit gehen. Der bullige Impresario, der ähnliche Schlagermiezen zu Dutzenden
mehr oder weniger groß gemacht und rücksichtslos an ihnen verdient hat, soll die damals
17-Jährige brutal vergewaltigt haben.
Doch für Bernd Boyard, den rücksichtslosen Egomanen und notorischen Lügner mit seinen
jetzt 79 Jahren ist das kein Grund zum Zusammenzucken. Die heile, glatt polierte
Welt des Schlagers duldet keine menschlichen Fettflecken. Also fordert er von
Jennifer, auf Angriff zu schalten, Lorelei mit juristischen Drohungen zum Schweigen zu
bringen.
Während jedoch die seit Kindertagen durch Vaters Herrschaft seelisch-moralisch so
verunsicherte Jennifer versucht, mit Lorelei etwas auszuhandeln, muss sie von der
erfahren, dass die einen einschlägigen ärztlichen Befund der Charité über die Tat in
Händen hält. Und nicht Geld sondern Gerechtigkeit will.
Immer schonungsloser und mit viel Sarkasmus wird beiläufig obendrein das sexuelle wie
auch finanzielle Ausbeuten der Möchtegernsternchen ausgeleuchtet. Und Stück für Stück
entlarvt, warum Jennifer derartig gestört ist. Bernd Boyard gebärdet sich nicht nur als
Frauenverächter und Frauenvernascher, er hat Jennifers Mutter Regina aus ihrem Leben
geschnitten, weil sie es gewagt hat, seiner Tyrannei zu entweichen.
Immer böser entwickelt sich diese gnadenlos entlarvende Gesellschaftssatire, wo die alten
aber nie wirklich überwundenen Rollenverteilungen zuungunsten der Frauen Jennifer ebenso
unheilbare Wunden schlagen wie ihrer Mutter und anderen Protagonistinnen. Mit Ausnahme von
Bernds aktueller Partnerin Melanie, einer knapp 60-jährigen ehemaligen Journalistin, die
den Reaktionär in ihrem Gebaren noch rechts überholt.
Und sie verschärft noch die gallige Steigerung dieses Familiendramas, als es zum
einbefohlenen gemeinsamen Weihnachtsfest in der Taunus-Villa des Patriarchen kommt. Da
überwiegt der Horror den zuweilen ätzenden Humor bei weitem und hier erwarte niemand ein
Happyend. Das alles ist brillant und wie mit dem Skalpell geschrieben: eine bitterböse
Gesellschaftskritik, die einen galligen Nachgeschmack hinterlässt.
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