LAVIE TIDHAR: MAROR
Maror, das sind die Kräuter auf dem Seder-Teller beim jüdischen Pessachfest, die an das
Leid der Sklaverei im alten Ägypten erinnern sollen. So heißt es im Alten Testament
unter Exodus 12, 8: Mit bitteren Kräutern sollen sie es essen.
Maror heißt nun auch der Titel von Lavie Tidhars jüngstem Roman und der für
seine ScienceFiction-Werke gerühmte, in England lebende israelische Autor legt damit
seinen ersten Politthriller vor. Und offenbart eine Innenansicht des Staates Israel über
mehrere Jahrzehnte, wie sie galliger und rabiater kaum denkbar wäre.
Im Mittelpunkt steht Chief Inspector Cohen (auch das hebräische Wort für Priester!), der
immer wieder bekennt, dass er dieses Land ebenso liebt wie eine Menschen und das Gesetz.
Wobei der Hartgesottene mit den eisgrauen Augen wie eine Spinne im Netz agiert. Und so
gern er aus dem Alten Testament zitiert, so alttestamentarisch unerbittlich zieht er auch
seine Fäden.
Der Zweck heiligt die Mittel lautet sein Credo und dazu hat er sich unter
anderem in Avi Sagi einen regelrechten Erfüllungsgehilfen herangezogene. Als nun im Jahr
2003 ein schwerer Anschlag mit einer Autobombe zwar Opfer kostet, die mutmaßliche
Zielperson, der Gangsterboss Rubenstein, aber verfehlt wird, soll Avi dafür sorgen, dass
daraus kein Bandenkrieg erwächst.
Der skrupellose Polizist zeigt einmal mehr seine Qualitäten bis hin zur Vollstreckung. So
verkokst und korrupt Avi auch sein mag, Cohen segnet auch den hohen Blutzoll ab: Du
hast meinen Segen, das Richtige zu tun. Und auch im weiteren entfaltet sich das
Geschehen auf den verschiedenen Zeitebenen zutiefst im Sinne eines 'krimi noir', wie ihn
US-Kultautor James Ellroy auf den gräßlich knarzenden Schienen schonungsloser
Gesellschaftskritik kaum schwärzer geschrieben hat.
Direkt und ohne jede 'political correctness' werden die Dinge beim Namen genannt und Avi
Sagis moralischer Kompass ist ebenso zynisch wie einfach: Die Methoden sind
schmutzig, aber der Job ist sauber. Ob Polizist oder Ganove, diese Grenzen
verschwimmen hier bis zur Unkenntlichkeit. Cohen aber denkt das ganz als Patriot:
Wer eine neue Nation aufbaut, muss Opfer bringen.
Bis in die 70er Jahre reicht dieser Reigen des immer wieder blutigen Reigens innerhalb und
außerhalb der Grenzen des Gesetzes zurück, wo auch die Anfänge des noch jungen Cohen
erzählt werden. Autor Tidhar lässt keinen Zweifel daran, dass er vor sehr realem
Hintergrund geschrieben hat, in den manche historische Persönlichkeiten einbezogen sind.
Es ist eine sehr dunkle Geschichte Israels, die hier bis ins Jahr 2008 reicht und mit
schnörkelloser expliziter Sprachgewalt, aber auch einigem schwarzen Humor deutlich macht,
wie sehr moralische Maßstäbe einer Gesellschaft unweigerlich erodieren, wenn sich ein
Land quasi dauerhaft im Kriegszustand befindet.
Das wirklich Spannende an diesem wuchtigen brutalen Meisterwerk des Genres sind im
Übrigen weniger die wilden kriminellen Ereignisse als vielmehr die demaskierten
Erfüllungsgehilfen einer monströsen, gnadenlosen Realpolitik in ihrem getriebenen
Zynismus: Niemand weiß was, niemand hat was gesehen und auf den Friedhöfen liegen
lauter Unschuldige.
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