BEN MACINTYRE: „AGENT SONJA“


Als die 22-jährige Architektengattin Ursula Hamburger im November 1930 in ihrem Haus in Schanghai von einem attraktiven Mann mit deutschem Akzent besucht wird, lässt sich die fern der Heimat öde fühlende Hochschwangere im Nu als Spionin für den sowjetischen Militärgeheimdienst GRU anwerben. Womit ein atemberaubendes Leben beginnt, das Gefahren, Geheimnisse und en passant eine Menge Sex bietet.
Doch nein, dies ist kein Roman à la James Bond, obwohl der Anwerber dem 007 in vielem ähnelt und auf den Namen Richard Sorge hörte: diese schier unglaubliche Geschichte beruht bis in die Details auf Tatsachen. Der britische Erfolgsautor Ben Macintyre gilt als hervorragender Experte für Spionage und ihm stand für „Agent Sonja“ nicht nur eine umfassende Fülle an Quellen zur Verfügung sondern auch die Autobiografie der einstigen Meisterspionin.
Die wurde als Ursula Kuczynski 1907 in eine wohlhabende jüdische Familie in Berlin hineingeboren. Schon früh war sie vom Kommunismus überzeugt und dann hatte sie mit knapp 17 bei einer Kundgebung zum 1. Mai eine Art Initiationserlebnis: ein Polizist schlug der Jungkommunistin genüsslich seinen Knüppel über den Rücken.
Doch Ursula träumte nicht nur von einer neuen Weltordnung, sie war geradezu süchtig nach Gefahr, Risiko und Geheimniskrämerei. So fühlte sie sich unter all den müßiggehenden Gattinnen der Ausländerenklave in Schanghai schlicht gelangweilt. Bis Meisterspion Sorge sie für Moskau rekrutierte, ihr den Agentennamen „Sonja“ verpasste und auch bald ihr Geliebter wurde.
Umgehend wird sie aktiv und findet es dabei ebenso prickelnd wie nützlich, als junge Mutter besonders unverdächtig zu erscheinen. Für ihre Einsätze ist sie viel unterwegs in China und der Mandschurei und ihr neuer Führungsoffizier wird dabei auch ihr neuer Liebhaber. Sie durchläuft Ausbildungen in Moskau, unter anderem zur Funkerin. Und sie wird an andere Schauplätze beordert. Das zweite Kind hat einen zweiten Vater und stets ist sie erfolgreich.
In der Schweiz schließt sie 1940 eine neue Ehe und dieser Len Beurton ist ebenfalls Geheimdienstler. Inzwischen bereits mit dem Rotbanner-Orden ausgezeichnet und in den Rang eines Obersten befördert, erlangt sie durch Beurton – oder auch Burton – die britische Staatsangehörigkeit. Als sie nun auch ins Vereinigte Königreich entsandt wurde, führte sie mit viel Geschick ein Doppelleben.
Nach außen hin die perfekte Hausfrau und Mutter mit inzwischen drei Kindern, baute sie in den Kriegsjahren ein exzellentes Agentennetz auf. Und hatte sie vorher schon einen Luftwaffenoffizier erfolgreich angezapft, um technisch-militärische Entwicklungen für den GRU auszuspionieren, kam ab 1943 ihr größter Einsatz hinzu, der die Weltgeschichte mit beeinflussen sollte.
Sie war in entscheidender Weise tätig, um die vom Atomwissenschaftler Klaus Fuchs verratenen Geheimnisse über die Forschungen zur Atombombe an die Sowjetunion zu übermitteln. Bis 1949, als Fuchs enttarnt wurde und auch sie aufzufliegen drohte, blieb sie in Großbritannien aktiv, bevor sie dann in die DDR flüchtete.
Autor Macintyre vermerkt zwar Verdachtsmomente, doch in wirkliche Gefahr sei Ursula Burton nie gekommen. Zu ignorant und inkompetent sei der MI5 gewesen, um an ernsthafte Spionagetätigkeiten einer Frau zu glauben oder diese gar aufzudecken. Für die Geheimdienstlerin aber begann nun ein völlig anderes Leben, das immerhin bis ins Jahr 2000 währen sollte.
Dem Kommunismus hat sie nie abgeschworen, obwohl sie von Stalins Verbrechen erfuhr und auch die Verhältnisse in der DDR nur sehr begrenzt mit ihren einstigen Weltverbesserungsvorstellungen zu vereinbaren waren. Allerdings führte sie nun ein recht privilegiertes Leben, schrieb 1958 ihre Autobiografie und dann machte die gelernte Buchhändlerin unter dem Pseudonym Ruth Werner noch eine beachtliche Karriere als Kinderbuchautorin.
Kaum zu glauben, dass ihre Kinder erst als Erwachsene vom wilden Doppelleben ihrer Mutter erfuhren, zumal sie häufig sogar in Einsätzen als Tarnung dienten. Doch auch das passt in die Biografie dieser unglaublichen Frau, die Ben Macintyre hier so fesselnd und absolut filmreif vorstellt. Und bei der man sich immer wieder vergegenwärtigen muss: alles ist wahr und historisch verbürgt.

# Ben Macintyre: Agent Sonja. Kommunistin – Mutter – Topspionin (aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt Und Jürgen Bürger); 467 Seiten, div. SW-Abb.; Insel Verlag, Berlin; € 26

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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